Kamen viele Nationalsozialisten aus kommunistischen Organisationen?

In Teilen der historischen Forschung wird unterstellt, ein erheblicher Teil der Mitglieder und Wähler der NSDAP seien von den Kommunisten gekommen. So behauptet z.B. H.A. Winkler, daß es trotz der relativem Stabilität der Arbeiterparteien "beträchtliche Fluktuationen zwischen den Extremen gegeben" habe.1 Wesentlich weitergehend spricht Schüddekopf von "einer großen Zahl von zwischen den Extremen Fluktuierenden, die oftmals in kurzer Zeit mehrere Male von ganz links nach ganz rechts" gewechselt seien.2 Viele Kommunisten, v.a. Mitglieder des Rot-Frontkämpferbundes seien in der Überzeugung zur NSDAP übergewechselt, "mit ihr werde man schneller zur Revolution kommen."3 Schüddekopf stützt seine Darstellung an diesem Punkt allerdings im wesentlichen auf Quellen aus "nationalbolschewistischen" und "nationalrevolutionären" Gruppen ("Entscheidung von Niekisch, "Die schwarze Front" v. Otto Strasser). Die Vermutung, daß diese Gruppen in zwischen NSDAP und KPD schwankenden Personen ihre potentielle Basis gesehen haben und diesen Personenkreis aus Zweckoptimismus größer darstellten, als er in Wirklichkeit war, liegt m.E. nahe.

Auch Gunther Mai meint, "daß vor allem aus den Reihen der KPD ein nicht unerheblicher Zustrom zu NSBO und KPD stattfand." Es hätte Gruppen gegeben, "die zwischen völkischen und kommunistischen Organisationen pendelten."4 Mai stützt sich dabei in unkritischer Weise auf die Angaben des ehemaligen Gauleiters der NSDAP von Hamburg, Albert Krebs, der zu jenen Nationalsozialisten gehörte, die Hitler den "Verrat" der "eigentlichen Ziele" der NSDAP an die Kapitalisten vorwarf.5 Darüber hinaus hält ein Teil seiner Einzelangaben der Überprüfung nicht stand. So behauptet Mai unter verweis auf Mason, in einem Einzelfall (der Abel-Sammlung) seien 7% der SA-Kämpfer Kommunisten gewesen.6 Mason schreibt aber, daß nur 7% der "alten Kämpfer" der Abelsammlung ehemalige Mitglieder linker Organisationen gewesen seien.7 Mais Etikettierung der ehemaligen Linken in der NSDAP als "Kommunisten" ist nicht nur voreilig, sondern auch falsch. Aus der Auswertung der Abel-Sammlung durch Peter Merkl geht nämlich ausdrücklich hervor, daß ehemalige Mitglieder der sozialistischen, gewerkschaftlichen und kommunistischen Jugendverbände zusammen 7,1% der "alten Kämpfer" ausmachten.8

Insbesondere die ältere wissenschaftliche Literatur begründet diesen angeblich häufigen Wechsel von der KPD zur NSDAP mit totalitarismustheoretischen Annahmen. So etwa Alfred Milatz:

"Die vielen gemeinsamen Wesenszüge der beiden totalitären Parteien machten es hunderttausenden bisheriger Linksradikaler leicht, nun den Anschluß an die weit erfolgreichere NSDAP zu suchen."9

Diese Aussage von Milatz ist m.E. mehr an seinen ideologischen Interessen als an historischen Tatsachen orientiert. Die Herausgabe dieses Buchs durch die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 1965 verstärkt den Eindruck, daß hier schlichtweg die KPD durch die Gleichsetzung mit den Nationalsozialisten diskreditiert werden sollte.

Wesentlich ernsthafter ist die Behauptung Zollitschs, bei den Betriebsratswahlen 1933 seien im Ruhrbergbau "ehemals kommunistische Wähler zu den Kommunisten übergeschwenkt, die nunmehr zur stärksten Gruppierung wurden."10 Seiner Einschätzung nach können die Verluste der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) nicht allein aus den restriktiven Bedingungen erklärt werden. Damit verharmlost Zollitsch aber die Bedingungen unter denen die RGO kandidieren mußte, bzw. nicht mehr kandidieren konnte. Morsch weist zurecht auf die Bedeutung des relativ späten Termins der Betriebsratswahlen im Bergbau für die Wahlbedingungen hin (ein großer Teil der BR-Wahlen im Ruhrbergbau fand erst am 7. April statt). Noch wichtiger ist ihm aber daß auf 40% der Schachtanlagen des Ruhrgebiets "nachweislich keine kommunistische Liste mehr zur Wahl" zugelassen wurde.11 Dadurch werden die Gebietsergebnisse natürlich erheblich verzerrt. Da Zollitsch, wie 1933 bereits der ADGB in der Gewerkschaftszeitung,12 die Ergebnisse der Betriebsratswahlen im Ruhrbergbau nur als Gesamtergebnis darstellt, ohne die Umstände der Wahl näher zu beleuchten, suggeriert er, die Listen der RGO hätten noch überall kandidieren können.13 Günter Morsch kommentiert dieses, im Grunde genommen unredliche und schäbige Verhalten des ADGB in dieser Frage folgendermaßen:

"Die Art und Weise dieser Veröffentlichung des ADGB war ein unschönes Beispiel dafür, daß manche sozialdemokratische Gewerkschafter die Gelegenheit nutzten, um den bereits weitgehend verhafteten kommunistischen Betriebsräten und vor allem ihren ehemaligen Wählern in den Betrieben ein 'Nazi = Kozi' nachzurufen. Denn ohne zu erwähnen, daß die kommunistischen Listen teilweise zur Zeit der Wahlen gar nicht mehr existierten, setzten die Artikel ihr ganzes Bestreben daran, die Wählerverschiebungen zwischen RGO und NSBO nachzuweisen. Dagegen wurden die Behinderungen der Freien Gewerkschaften hervorgehoben - allerdings auch nur im Nebensatz."14

Ein entscheidendes weiteres Argument für die eingeschränkte Aussagekraft der Betriebsratswahlen gebraucht aber auch Morsch nicht: Die große Zahl der Entlassenen in allen Bereichen der deutschen Wirtschaft zwischen den Wahlen von 1931 und 1933. Da die Betriebsleitungen vor allem die Mitglieder der RGO entließen,15 was auch eine Folge der isolierten Streiks der kommunistischen Gewerkschaft war,16 sind größere Verschiebungen bei den Wahlergebnissen auch durch die Fluktuation, oder besser die Reduzierung, der Belegschaften erklärbar. Im Falle der Concordia Bergbau AG, des einzigen Einzelbeispiels bei Zollitsch, schrumpfte die Belegschaft von 3605 auf 2314 Beschäftigte, also um ein Drittel.17 Die Zahl der Entlassenen überstieg die der RGO-Verluste deutlich.

Ich möchte damit nicht behaupten, es hätte keine Übertritte von der KPD zur NSDAP gegeben. Es gibt dazu in der Literatur einige, z.T. relativ prominente Beispiele.18 Auch Antifaschistinnen und Antifaschisten berichten in ihren Autobiographien von Begegnungen mit ehemaligen Genossen in SA-Uniform.19 Es geht zunächst einmal darum, auf welch dürftiger Quellenbasis eine derartig weitgehende Behauptung von einer Reihe von Historikern aufgestellt wurde. Eine realistische Schätzung der Zahl der Übertritte zwischen den beiden Parteien ist aufgrund der derzeitigen Quellenlage allerdings nicht möglich, und vage Umschreibungen, wie, "in nicht unerheblichem Maße" seien Kommunisten zur NSDAP gestoßen, verdecken dieses Defizit lediglich. Sie suggerieren m.E. aber eher eine zu große Zahl von Überläufern. Doch im Endeffekt bleibt es vorläufig dabei: Wir wissen nicht wie viele Kommunisten Mitglieder der NSDAP wurden.

Im Gegensatz zu den Parteimitgliedern wissen wir Dank der Wahluntersuchungen Falters zumindest einiges über den Wählerwechsel zwischen den Parteien. Diese ergaben eindeutig bei der Kommunistischen Partei die stärksten Haltequoten gegenüber der NSDAP. Von ihr stießen im Verhältnis zu ihrem Stimmenanteil wesentlich weniger Wählerinnen und Wähler zur NSDAP als von allen andern Parteien. Bei den Juliwahlen 1932, als die NSDAP ihren zweiten großen Wahlsieg erzielte, war ihre Haltequote dreimal so hoch wie die der SPD und doppelt so hoch, wie die der, als besonders "NS-resistent" geltenden, katholischen Parteien.20 Auch wenn daraus keine direkten Schlüsse auf das Verhalten der KPD-Mitglieder möglich sind, so läßt diese Analyse doch eine eher geringe Zahl von Überläufern von der KPD zur NSDAP vermuten.

Daß sich das Vorurteil, viele Kommunisten seien zur NSDAP übergetreten so lange gehalten hat, hat m.E. mehrere Gründe.

1. gehörte die Behauptung, sie habe viele ehemalige Mitglieder der Arbeiterparteien und insbesondere der KPD für sich gewonnen zur Selbststilisierung der NSDAP.21 Das Klischee vom ehrlichen, deutschen Arbeiter, der durch die Marxisten verführt wurde, um dann nach einem Bekehrungserlebnis zu "Hitler" zu finden, kommt auch in den SA-Romanen häufig vor (z.B. ist der Titelheld von "SA-Mann Tonne" zunächst Kommunist, ebenso Wilhelm in Georg Lahnes "Aufbruch zu Hitler", der sich auch noch von einer "roten, emanzipierten Hure" verführen ließ, bevor er zu den Nationalsozialisten fand, und mit ihnen auch seine Braut wiederbekam; in Bades "SA erobert Berlin" wird ebenfalls behauptet, viele Männer der SA kämen "von der Kommune".)22 Die Vorliebe zu kommunistischen Überläufern sollte suggerieren: "die besten Leute aus den Reihen der Kommunisten finden stets zu den Nazis."23

2. hatten SPD und Gewerkschaften die Mitglieder und Wähler der KPD seit ihrer Gründung diffamiert. "In der Kommunistischen Partei sammelten sich besonders ungelernte Arbeiter, Salonbolschewisten und der Bodensatz der Gesellschaft" hatte z.B. Wilhelm Hoegner erklärt.24 In der Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus durch SPD und Gewerkschaften fand diese Verachtung der Kommunisten ihre Fortsetzung25

3. In der wissenschaftlichen Aufarbeitung im Kontext des "kalten Krieges" wurden die Kommunisten im Rahmen der Totalitarismustheorie mit den Nationalsozialisten gleich gesetzt. Während des "kalten Krieges" und auch noch danach war es einfach, die Kommunisten für den Aufstieg der Nationalsozialisten verantwortlich zu machen.

siehe auch: Grafiken zu den Wahlbewegungen in der Weimarer Republik

1 H.A. Winkler, Mittelstandsbewegung oder Volkspartei? Zur sozialen Basis der NSDAP S. 99. Ähnlich schrieb Schoenbaum: "Auch die KPD verlor nachweislich Wählerstimmen an die Nationalsozialisten." (Schoenbaum, Die braune Revolution S. 68)
2 O.E. Schüddekopf, Nationalbolschewismus in Deutschland 1918-333 S. 396
3 O.E. Schüddekopf, Nationalbolschewismus in Deutschland 1918-333 S. 396
4 Gunther Mai, Die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation, in VfZ 31 (1983) S. 604/5
5 Albert, Krebs, Tendenzen und Gestalten der NSDAP. Erinnerungen an die Frühzeit der NSDAP. Krebs war bereits 1922 der NSDAP beigetreten. Er war von 1926-28 Gauleiter von Hamburg und 1930-32 Schriftleiter NS-Zeitung "Hamburger Tageblatt". Im Mai 1932 wurde er aus der NSDAP ausgeschlossen. (S.7) Krebs schrieb: "Mit Sicherheit sind über die Erwerbslosenzellen eine Anzahl von früheren Kommunistenin die Partei gekommen ... Treibsand der Arbeiterbewegung und darum als Stoßtrupp gegen das formierte, selbstbewußte "Arbeitertum" nur wenig brauchbar." (S. 74) Mai übernimmt sogar Krebs Formulierung vom "Treibsand der Arbeiterbewegung", die scheinbar für besonders originell hält. (Mai, NSBO S. 604)
6 Mai, Die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation S. 604, Fn178
7 Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich S. 54, Fn. 21 Mason hält die Übertritte von den Arteiterparteien zur NSDAP insgesamt für gering, "obgleich die die politischen Loyalitäten an der Grenze zwischen KPD und NSDAP etwas fließender waren." (ebd, S. 54)
8 Peter Merkl, Die alten Kämpfer der NSDAP -Auswertung von 35 Jahre alten Daten, in: Sozialwissenschaftliches Handbuch für Politik 2 (1971) S. 503
9 Alfred Milatz, Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 66 S. 141
10 Zollitsch, Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus S. 194
11 Morsch, Arbeit und Brot S. 88, auf mindestens zwei von zehn Schachtanlagen im Aachener Raum wurden ebenfalls keine kommunistischen Listen mehr zugelassen.
12 Gewerkschaftszeitung 1933 S. 254 ff. nach Morsch, Arbeit und Brot S. 87
13 Zollitsch, Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus S. 191, Tab. 29. Ein einziges Einzelwahlergebnis dokumentiert Zollitsch, das der Concordia Bergbau (Tab 30).
14 Günter Morsch, Arbeit und Brot S. 87
15 Zu den gezielten Entlassungen kommunistischer Arbeiter in der Industrie siehe Hartmann Wunderer, Materialien zur Soziologie der Mitgliedschaft und Wählerschaft der KPD zur Zeit der Weimarer Republik S. 266/7. Ab 1924 entfiel der Kündigungsschutz für Betriebsräte. Bereits 1924 beklagte die KPD: "Wer auf einer kommunistische Liste in den Betriebsrat gewählt wird, hat sofortige Entlassung ohne jedweden gesetzlichen Schutz zu gegenwärtigen. Es häufen sich die Fälle, daß die auf einer kommunistischen Luste Gewählten schon nach einer Woche restlos nicht mehr im Betrieb sind." (Iwan Katz, in Inprekorr, Nr 151 1924 II S. 2033, zitiert nach Wunderer, Materialien .. S. 266) Mason vermutet allgemeiner, viele Arbeitgeber hätten in der Krise politisch und gewerkschaftliche Belegschaftsmitglieder entlassen. (Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich S. 96),
16Bereits 1931 hatte die Berliner SPD die Entlassungen der kommunistischen Arbeiterinnen und Arbeiter mit dem spöttischen Kommentar bedacht, sie hätten sich aus den Betrieben "herausgestreikt". (Wunderer, Materialien zur Soziologie der Mitgliedschaft und Wählerschaft der KPD zur Zeit der Weimarer Republik S. 267)
17 Zollitsch, Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus S. 191
18 Z.B. den früheren KPD-Landtagsabgeordneten Hans Hack, der 1933 zunächst SA-Sonderkommissar für Augsburg Land und anschließend Bürgermeister von Friedberg wurde.
19 z.B.: Lisa Fittko, Solidarität unerwünscht S. 35/6. Auch Francis Carsten berichtet (in seinem ansonsten nicht autobiographischen Buch) von dem Schock, den er empfand, als er ehemalige Mitglieder der "Antifaschistischen Jungen Garden" in SA-Uniform sah. (Carsten, Widerstand gegen Hitler S. 15/16)
20 Siehe Falter, Hitlers Wähler S. 116 und die Graphik 5.9
21 Francis L. Carsten, Widerstand gegen Hitler S.14
22 Peter Hagen, SA-Kamerad Tonne, Berlin 1933; Georg Lahne, Aufbruch zu Hitler, Dormund 1933; Wilfried Bade, SA erobert Berlin, München 1934. Alle drei Romane werden beschrieben in Rainer Stollmann, Die krummen Wege zu Hitler. Das Nazi-Selbstbildnis im SA-Roman, in: Kunst und Kultur im Deutschen Faschismus (Hg. Ralf Schnell) S.191-215. Laut Stollmann findet sich die Vorliebe für kommunistische Überläufer in allen SA-Romanen. (S.206) Ebenso typisch scheint, daß die übergelaufenen Kommunisten im SA-Roman mit der Hinwendung zum Nationalsozialismus auch ihr persönliches Glück in Form einer "ordentlichen Braut" finden.
23 Rainer Stollmann, Die krummen Wege zu Hitler. Das Nazi-Selbstbildnis im SA-Roman S.206
24 Hoegner, zitiert nach Wunderer, Materialien ... S.258
25 Z.B.: Otto Wels: "Bolschewismus und Faschismus sind Brüder." (auf dem SPD-Parteitag 1931, zitiert nach Freyberg, Geschichte der Sozialdemokratie S.170), Rudolf Breitscheid: "Die Regierungen Stalins und Mussolinis sind im Grunde genommen von der selben Idee getragen, wenn auch mit unterschiedlichem Vorzeichen."(Breitscheid, Die Überwindung des Fachismus. Rede vom 2. Juni 1931 auf dem Parteitag der SPD, abgedruckt in: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik, herausgegeben von Wolfgang Luthard, Bd, 2 S.326-354, Zitat S.328; Otto Braun bezeichnete die "Nationalbolschewisten" als "ebenso schlimme Radaubrüder" wie die "Linksbolschewisten". (nach Wette, Mit dem Stimmzettel gegen den Faschismus? S.376) Auch die Gewerkschaften sprachen von "Nazis und Kozis" in gleichsetzender Absicht. (z.B. "Gewerkschaft", 26.11.1932, abgedruckt in Deppe/Roßmann, Wirtschaftskrise, Faschismus, Gewerkschaften 1929-1933 S. 235