Frankfurt: redefine resistance - Die reaktionäre Formierung durchbrechen

Die reaktionäre Formierung durchbrechen
Deutscheuropäische Realitäten angreifen
30. Oktober 2004 - Frankfurt/Main
14:00 Merianplatz: Demonstration und Konzert

Gegen Sozialabbau, Geschichtsrevisionismus und Sicherheitswahn

Es gibt einige Tage, wie z.B. den 1. Mai, an denen die radikale Linke traditionsgemäß zusammen kommt um gegen das Übel namens Kapitalismus im Allgemeinen und die deutschen Zustände im Besonderen ihr Dagegen-Sein öffentlich zu bekunden. Ganz besonders angesagt wäre es für eben jene Leute an noch mehr Tagen als dem "Tag der Heimat", dem "Tag der deutschen Einheit" oder dem Jahrestag des Überfalls auf Polen aktiv zu werden. Der 30. Oktober 2004 ist keiner dieser symbolträchtigen Tage. Genaugenommen ist an diesem Tag wahrscheinlich noch nie etwas aus globaler Sicht besonders Wichtiges passiert. Trotzdem und gerade deswegen möchten wir diesen "Anlass" nutzen, unsere Kritik am "falschen Ganzen" und der ganz falschen Entwicklung deutlich zu machen. Mit Blick auf die bisherige Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen reaktionärer Formierung des deutsch-europäischen Standortes wollen wir dabei über die übliche Antifa-Praxis hinausgehen und den rechten Rollback in der Geschichtspolitik nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem Abbau der "sozialen Rechte" und dem Ausbau der Sicherheitsorgane thematisieren und angreifen. Wir wollen in diesem Sinne einen Beitrag dazu leisten, die Wirkungslosigkeit der radikalen Linken und die Zahnlosigkeit ihrer Kritik zu beenden um mit dem Kapitalismus - unter der Perspektive seiner Überwindung - wieder auf Augenhöhe zu kommen. Eine Linke die, wie heutzutage häufig anzutreffen, die kapitalistische Vergesellschaftung faktisch in mundgerechte "Teilbereiche" zerlegt, trägt kaum zur Lösung des Rätsels der Geschichte bei, sondern kann vielmehr sogar Teil des Problems werden. Eine fortschrittliche Position muss es dagegen ermöglichen, der gesellschaftlichen Entwicklung als Ganzes auf die Pelle zu rücken. In diesem Zusammenhang erweisen sich Sozialabbau, Sicherheitswahn und Geschichtrevisionismus als beispielhafte Merkmale für die Formierung des deutsch-europäischen Standortes in der Tauschgesellschaft. Ohne die Entwicklung des globalen Kapitalismus ist der aktuelle Abbau der letzten sozialen Rechte schließlich schwer zu erklären. Ebenso wie die mehr oder weniger begeisterte Unterordnung der Menschen unter die sogenannten Sachzwänge des deutsch-europäischen Standortes, ohne die die Umdeutung der deutschen Geschichte und der dazugehörigen Menschheitsverbrechen in einen moralischen Mehrwert für die Nation nicht funktionieren würde. Ohne die hinter dem Gelaber über "Sachzwänge" durchscheinende Entpolitisierung der Gesellschaft ist wiederum auch eine "Sicherheitspolitik" nicht denkbar, die gesellschaftliche Konflikte zunehmend nur noch als polizeiliche Probleme wahrnimmt und dementsprechend kriminalisiert. Und ohne einen mit diesen "Sicherheitsmaßnahmen" einhergehenden Diskurs über eine ihrerseits als entpolitisiert wahrgenommene "terroristische Bedrohung" durch einen der bürgerlichen Gesellschaft äußeren Feind würde sich wahrscheinlich auch nationale Identität weniger erfolgreich bewerben lassen.

Wir rufen euch daher dazu auf, am 30. Oktober nach Frankfurt zu kommen und mit uns gegen die reaktionäre Formierung und den dahinter stehenden deutsch-europäischen Standort anzugehen. Es Iiegt schließlich an der radikalen Linken, den Beweis zu erbringen dass Geschichte, entgegen ihrem bisherigen Verlauf, machbar ist. In diesem Sinne: Angreifen statt Angeben.

Realität ist eine Frage des Standorts

Sowohl die reformistische wie auch die radikale Linke sieht sich aktuell dem Problem ausgesetzt, dass sie - sofern sie überhaupt noch vorkommt - nur defensiv als rückwärtsgewandte "Fortschrittsfeinde", "Bremser" und "Blockierer" wahrgenommen wird. Kanzler Schröder beispielsweise weiß, dass die Opposition gegen den Sozialabbau "nicht realitätstauglich" ist. Und der Grünen-Funktionär Bütikhofer sekundiert, dass sich heutzutage vor allen Dingen "Sachprobleme" stellen, die "jenseits der alten ideologischen Gräben" verlaufen. Und Otto Schily findet in Bezug auf den Abbau der Bürgerrechte, dass sich die Gegner des Grundrechtsabbaus "doch einmal der Realität stellen sollen". Auch der BdV-Vorsitzenden Erika Steinbach fällt mit Blick auf das neue deutsche Geschichtsbewusstsein zu dieser Realität etwas ein: "endlich darf man vorurteilsfrei allen (also des deutschen) Leidens gedenken". Die Aufzählung lässt sich fortsetzen. Und natürlich ist sie grundsätzlich als Lüge von der Alternativlosigkeit der Gesellschaft zurückzuweisen. Doch so richtig es ist, diesen Bezug auf vermeintliche "Realität" und "bloße Sachprobleme" als Teil einer politischen Strategie zu outen, so sehr bleibt ein Verständnis dieser Gesellschaft begrenzt, das die Entpolitisierung der Gesellschaft als "Trick der Herrschenden" begreifen will. Ein kritisches Verständnis von Gesellschaft muss darüber hinaus gehen. Schließlich ergibt sich die Reduzierung gesellschaftlicher Konflikte auf ihre systemimmanente Lösbarkeit nicht aus der Verordnung von oben, sondern vielmehr aus der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Auseinandersetzungen selbst. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem damit einhergehenden Ende der simulierten "Systemkonkurrenz" tut der Kapitalismus zunehmend das, was er bekanntermaßen eigentlich schon immer tut - er verwertet in Konkurrenz alles und jeden. So exekutieren Menschen, wenn sie denn im Kapitalismus überleben wollen dessen Zwänge in und durch all ihre Handlungen. Von rationaler Selbstbestimmung kann da also nicht die Rede sein, wo Geschichte nur die Abfolge von Ereignissen beschreibt. Die neoliberale Lüge von den alternativlosen Sachzwängen, denen es sich zu stellen gelte, hat in dem Sinne auch ihren wahren Gehalt. Schließlich sind innerhalb der kapitalistischen Systematik bei Strafe des ökonomischen Untergangs z.B. bestimmte Wettbewerbskriterien wie niedrige Lohnnebenkosten zu erfüllen. Wenn nicht die gesellschaftlichen Grundlagen ergo Produktionsverhältnisse in Frage gestellt werden, ist ein "schönes Leben für alle" dementsprechend nicht zu haben. Eine andere Welt ist also nicht möglich, außer als eine, die grundsätzlich anders und damit vom jetzigen Zustand aus nicht positiv bestimmbar ist. Dieser Erkenntnis verweigern sich jedoch all jene Sozialliberalen, "kritische" Gewerkschafter und der Rest der übriggebliebenen Sozialdemokraten, die beispielsweise mittels einer Steuer oder einer neuen Linkspartei "nicht alles anders, aber vieles besser" machen wollen. Die Versicherung, garantiert nichts besser zu machen, ist dabei der Bezug auf den nationalen Standort als der im Kapitalismus einzig denkbare Prüfstein für "Allgemeinwohl" und damit Machbarkeit - also "Realität". Dieses Allgemeinwohl, dem sich auch selbst jene (Gewerkschafter) verpflichtet fühlen die offensichtlich gerade als überflüssig abgewickelt werden, meint seit jeher nicht "alles für alle", sondern die Unterordnung des einzelnen Menschen unter die Nation, die wie eh und je auf rassistischen u.a. Auschließungsmechanismen zurückgreift. Dabei bietet sie selbst auch durch die scheinbar positive Bestimmung ihrer Identität als fleißig, rechtsschaffend etc. den Nährboden und Katalysator für antisemitische Ressentiments gegen das "raffende Kapital", das doch immer nur "die Juden" meint. Da die nationale Abgrenzung nicht positiv geschehen kann, ist die Nation nicht nur selbst Gewaltverhältnis, sondern zugleich auch immer die Drohung, die Lüge endgültig wahr zu machen, dass ein menschenwürdiger Zustand nicht zu erreichen sei. So ist das kapitalistische Elend verewigt in der konstruierten nationalen Identität, die durch staatliche Gewalt zusammenfasst was nicht zusammengehört, spezifische Interessen der Menschen unter ein nationales Allgemeines subsumiert, und so verschwinden lässt. Dementsprechend stellt sich den Realpolitikern des Standortes die Welt - trotz der ertstaunlichen Fortschritte des Menschen - nicht als eine Ansammlung zunehmender realer Möglichkeiten, sondern als Ansammlung von (Sach-) Problemen dar, die es zur Aufrechterhaltung der nationalen Konkurrenzfähigkeit zu lösen gilt. Der Wiederaufstieg des deutsch-europäischen Standortes mit all seinen negativen Folgen vom Abbau der sozialen Recht über den Ausbau der Überwachungsgesellschaft bis zur "Normalisierung" der Geschichtspolitik ist ohne die Legitimation über "Realität" nicht denkbar. Die nationale Realität ist zwar eine konstruierte, aber gerade deswegen kein Hirngespinst. Wer die Konsequnezen einer radikalen Gesellschaftskritik zugunsten der "Nutzbarmachung zur Anklage gesellschaftlicher Fehlentwicklungen" scheut und daher halbiert ist in ihr gut aufgehoben. Wo die Realität reaktionär im Sinne der zunehmenden Abwesenheit menschlicher Gestaltungsfähigkeit ist, sind Reaktionäre nicht hintendran sondern just in time. Es wird dementsprechend zunehmend sinnlos, die reaktionären gesellschaftlichen Gruppen als "Ewiggestrige" outen zu wollen und ihnen so implizit vorzuwerfen, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Schließlich sind sie nicht am rechten Rand der Gesellschaft zu finden, sondern in der neuen Mitte des Standortes. Egal dort ob die Charaktermasken jetzt Steinbach, Fischer, Schröder oder Westerwelle heißen.

Reformen für den Standort

Nationale Realität meint in diesem Zusammenhang also nicht die wirklichen, tatsächlichen Zustände und Machbarkeiten, sondern die tatsächliche Notwendigkeit der Anpassung des Menschen an Kapital und Nation als das ihrer Gestaltungsfähigkeit Äußerliche und doch nur durch sie existierende Zwangsverhältnis. Der zentrale Begriff der "Reformen" bedeutet dementsprechend nicht mehr die schrittweise Änderung der Verhältnisse in Richtung der realen Möglichkeiten des Menschen, sondern die schrittweise Anpassung des Menschen an die realen Verhältnisse. Dies wird nicht fanatisch, sondern technokratisch und sachlich organisiert, schließlich ist man sich über das "unpolitische" Endziel der Exekution von Sachzwängen - dem Ende der Geschichte - einig. Eine menschliche Vorstellung der Welt, die sich anhand dieser Anforderungen der nationalen Realität beweisen will, blamiert sich zwangsgläufig selbst. Nicht nur weil sich Sprüche wie "Hier wird an Deutschlands Zukunft gespart!" (vergl. Studentenproteste 2003/04) selten dumm anhören, sondern einerseits, da die Vorstelllung einer "anderen Welt" im Standort nie einlösen kann, was sie den Menschen an Glück verspricht, schließlich muss sie den ganzen Laden am Laufen halten. Andererseits, da sie für die Verwaltung des nationalen Kollektivs samt kapitalistischer Geschäftsgrundlage zu unentschlossen, unflexibl und - ja - unrealistisch ist. Rückwärtsgewandt ist es also wirklich, den "Sozialstaat" als idealisierten Zustand zu verteidigen, den es so ohnehin nie gab und angesichts der globalen Entwicklung des Kapitalismus auch nicht geben wird. Arbeit statt Luxus für alle ist demenstprechend die Drohung mit der die so hoffnungslose wie denkfaule "Opposition gegen Sozialabau" aber doch für den Standort hausieren geht. Dabei wird doch schon mit der platten Rhetorik Schröders, der den Unmut über die von ihm mitvertretene Politik - ganz im Sinne von Attac - auf "unpatriotische" Unternehmer lenken will deutlich, dass Standortnationalismus wohl kaum ein Mittel gegen Sozialabbau ist. Eine realistische, emanzipatorische Position muss sich deswegen gerade von diesem falschen Anspruch verabschieden und dem eigenen Standort im globalen Wettbewerb in den Rücken fallen. Sie kann sich dabei nicht an den realen Anforderungen der "erfolgreichen" Verwaltung des nationalen Elends, sondern nur anhand der realen Möglichkeiten menschlichen Glücks orientieren. Es ist in diesem Sinne kein Beinbruch, wenn linke Praxis sich für den Standort Deutschland als unpraktikabel und unrealistisch erweist. Fortschrittliche linke Praxis beweist sich vielmehr gerade dadurch als im besten Sinne realistisch, dass sie im Bestehenden für den Standort nicht nutzbar zu machen ist und sich gegen die nationale Realität richtet. Auch daher ist der Aufruf zu einer Demo gegen die Realität nicht nur auf den ersten Blick paradox, sondern auch richtig. Doch so wenig dieser Prozess dabei "von Oben" im Sinne einer Verschwörung gesteuert wird, so sehr wird er doch durch bestimmte Institutionen, Parteien und Organisation forciert, legimiert und diskursiv begleitet. Für die Linke heißt das, auch die Akteure dieser Entwicklung (wie z.B. die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)) ins Visier zu nehmen und radikale Gesellschaftskritik in realen Auseinandersetzungen konkret werden zu lassen. Die Linke muss sich - nicht zuletzt auch sich selbst zuliebe - dem Standort entgegenstellen, der durch den Abbau der sozialen Rechte die gesellschaftliche Marginalisierung von Menschen beschleunigt und mit der Bedrohung der letzten gesellschaftlichen Freiräume in denen in der "Hölle noch die Luft zum Atmen" (Adorno) blieb, die Handlungsfähigkeit der Linken als Ganzes bedroht. Die daraus folgende zunehmende Brutalisierung der Gesellschaft wird sich bekanntermaßen nicht zugunsten einer emanzipatorischen Perspektive auswirken. Eine erfolgreiche Opposition wird sich also nicht aus dem Willen zum Mitmachen und standorttreuer Kompromissbereitschaft, sondern nur aus der Absage ans kapitalistische Ganze entwickeln lassen.

Geschichte für den Standort

Die Alternativlosigkeit der Gesellschaft findet ihr Pendant in einer Verkümmerung des rationalen Denkens und der Erinnerung, dem die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung abhanden kommt. Allerdings nicht in der "ewiggestrigen" Leugnung von Tatsachen wie der deutschen Verbrechen, sondern deren selektiver Wahrnehmung und Nutzbarmachung unter dem Vorzeichen der Konstruktion einer deutsch-europäischen Identität in kultureller Abgrenzung zum Rest der Welt, der auf europäisch "zivilisiert" gehört. Dieses Potpurrie aus "aufklärerischem" Eifer und nationalem Selbstbewustsein bei Beibehaltung der kapitalistischen Grundlagen kommt dementsprechend in einer rot-grün-BdV-farbenen Geschichtspolitik zu sich selbst, die die ideologische Begleitmusik für den deutsch-europäischen Marsch an die Spitze bildet. Die "Realität anerkennend", werden die Opfer von Gewalt aus dem geschichtlichen Kontext herausgerissen in dem Sie fielen. So dass am Ende die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer hinter der "neutralen Erkenntnis", dass "schreckliches Leiden" eben schrecklich ist verschwindet. Da macht es keinen Unterschied, ob es ein Wehrmachtssoldat, der bei seinem schwer verdienten persönlichem Stalingrad zu Tode gekommen oder der von ihm bei Massenerschießungen ermordete Jude ist, der Leid empfindet. Diese Entkontextualisierung und Anthropologisierung von "Leiden" und "Gewalt" spielt aktuell, rot-grün gewendet die Rolle der Totalitarismustheorie aus dem Kalten Krieg. Ungeachtet der gesellschaftlichen Bedingungen von Nation und Kapital aus denen heraus das Menschheitsverbrechen des Holocaust begangen wurde, lässt sich so eine "Verantwortung" für Deutschland in Europa ableiten, die sich herrvorragend dazu eignet, eine "moderne" nationale Identität zu begründen, die nicht nur nicht mehr mit dem Mangel des Verbrechens behaftet ist, sondern diesen dem Rest der Welt vielmehr noch voraus hat. Geschichte wird so den Gesetzen des Standortes (s.o.) entsprechend apolitisch und dadurch gerade für das nationale Kollektiv verwertbar, dessen notwendige Überwindung doch eigentlich das Einzige ist, was sich aus ihr ableiten lässt.

who controls the past - controls the future

Der Vorwurf des "Revanchismus" gegen die deutsche Geschichtspolitik im Sinne des Versuches einer Rückbesinnung und Rückgewinnung alter Grenzen und Vorteile trifft in diesem Zusammenhang daneben. Vielmehr ist die neue deutsche Geschichtsschreibung nach vorne gewandt, stellt nationale Identität durch die großflächige Einbeziehung der nationalen Zivilgesellschaft auf eine breite Basis und zielt so auf die Stärkung der Gestaltungsfähigkeit des Standortes im 21. Jahrhundert ab. Diesem neuen Vorgehen entsprechend kann sich das benachbarte Ausland, insbesondere Polen, seit einiger Zeit vor agressiven deutschen Versöhnungsangeboten und Gesten kaum noch retten. Überall will entweder der Kanzler oder die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen dabei sein, um immer wieder zu verkünden, dass jede Niederlage Nazi-Deutschlands ein Sieg für Deutsch-Europa sei und jedes deutsche Verbrechen, wie etwa die Niederschlagung des Wahrschauer Aufstandes, doch zumindest "ein großartiger Anlass zur Versöhnung" (vergl. FR vom 21.7.04). Dabei geht es jedoch genauso um die Relegitimierung von Großmachtansprüchen im europäischen Gewand, wie sich nichts daran ändert, dass der der von Völkern und Nationen redet vom einzelnen Menschen schweigt. Zu dieser Nutzbarmachung der deutschen Verbrechen für Deutschland gehört das Holocaust-Mahnmal ebenso wie die Verehrung der Attentäter des 20. Juli, die Europäisierung der Schuld und die lächerliche Zwangsarbeiter-"Entschädigung". Dem tut auch die gesellschaftliche Debatte in der beispielsweise das Holocaust-Mahnmal als "Monumentalisierung der Schande" (vergl. Martin Walser) bezeichnet wurde keinen Abbruch. Vielmehr erweisen sich an ihr die Abstimmungsschwierigkeiten und Ungleichzeitigkeit der Durchsetzung des Standortbewusstseins, das am Ende doch nur "ein Sieg für Deutschland" (vergl. Schröder zum D-Day) sein kann. Dementsprechend ist es kein grundsätzlicher Widerspruch, dass einer wie z.B. Martin Walser der gegen das Holocaust-Mahnmal wetterte, sich dann am 8. Mai zum Klönen über Vaterlandsliebe mit dem SPD-Kanzler trifft. Eine linke Kritik, die sich nur gegen den klar revisionistischen Rand richtet und das "Einbrechen" oder "Einsickern" reaktionärer Strömungen in die Mitte der Gesellschaft beklagt, verfehlt also den Gegner. Hatte Roland Koch doch recht, als er auf dem Hessentag 2004 verkündete, dass der völkische Bund der Vertriebenen "zu Deutschland gehört wie das Rote Kreuz". Ohne die rechtsextreme Variante der Nation zu unterschätzen muss sich linke Kritik daher gegen den nationalen Standort und seine "antifaschistische" Mitte richten. Dafür braucht es keine befriedeten Gedenktage und das Theoretisieren im luftleeren Raum, sondern den Angriff auf eine gesellschaftliche Praxis und deren Symbole, die der deutschen Geschichte immer wieder treu bleibt. Links ist schließlich da wo keine Heimat ist.

Sicherheit für den Standort

Seit Jahren vollzieht sich auch auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik eine folgenreiche Entwicklung die größtenteils von der Linken ignoriert wird. Den, anlässlich jeder neuen Gesetzesverschärfung geäusserten publizistischen Bekenntnissen zum Trotz kommt der Protest gegen den Abbau verfasster Grundrechtspositionen - so er denn hörbar wird - seit 2 Jahren nur noch von Datenschutzbeauftragten und anderen überlebenden Sozialliberalen, die ihren Job anscheinend zunehmend widerwillig erfüllen. Dabei nimmt das Tempo der gesetzlichen Verschärfungen mit dem abnehmenden Widerstand zu; und es ist absurd, dies (das zunehmende Tempo) allein mit der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus zu erklären. Vielmehr erscheint es richtig, die freudige Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze (inklusive der Diskussion über Folter und das mal so ganz "sachliche Nachdenken" über ein Feindstrafrecht) in Zusammenhang mit der Formierung des Standortes zu stellen. In dem Maße in dem Gesellschaft im kapitalistischen Standort zum unhinterfragbaren Schicksal wird, werden gesellschaftliche Konflikte aus dem Zusammenhang gelöst und erscheinen als Sachprobleme, die es "in den Griff" zu kriegen gilt. Folge ist die zunehmende Kriminalisierung dieser Konflikte mit dem Ziel der Befriedung der Symptome unter Beibehaltung der Ursachen. So wie dies eine Antwort auf die mit der Zunahme der Masse der für den Standort überflüssigen Menschen einhergehende Brutalisierung der Gesellschaft darstellt, so sehr ist es jedoch auch eine irrationale Antwort auf - wie ein Blick auf sinkende Krimialitätsraten zeigt - aufgebauschte Bedrohungsszenarien. Mit "Sicherheitspolitik" gegen den (wechselnden) "Feind" gelingt es, eine Handlungsfähigkeit zu simulieren, die der ohnmächtigen Gesellschaft an sich fehlt. Aktivität wird also dort gespielt, wo Passivität im Sinne des proklamierten "Endes der Geschichte" eigentlich zum Idealzustand erklärt wurde. Die damit erzeugte "Sicherheit" misst sich dementprechend auch immer mehr am "subjektiven Sicherheitsgefühl" der Bevölkerung als an objektiven Kriterien. Auch wenn darin deutlich (rechts-)populistische Elemente zu identifizieren sind, ist diese Entwicklung jedoch ebenfalls nicht einer "Taktik der Herrschenden" zuzuordnen. Sicherheit (der Geschäftsgrundlage) ist ein ureigenstes Bedürfnis des Kapitalismus und wo die Gesellschaft durch ihre Entpolitisierung quasi entgesellschaftlicht wird, treten an die Stelle des unflexiblen Dialoges - der seinerseits allerdings auch reglementiert und begrenzt war - eben Sanktionen, die auch dem Rechnung tragen, dass zunehmend weniger aus der kapitalistischen Bäckerei zu verteilen ist. "Sicherheit" ist ausserdem ein nicht zu missachtender Standortvorteil. Es gibt also nichts zu bereden. Auch wenn mit dem Abbau der Bürgerrechte und dem Ausbau und gleichzeitiger Dezentralisierung der Überwachung (z.B. mit Kameras und privaten Sicherheitsdiensten) nicht das Ende der bürgerliche Rechtsstaates kommen muss, sondern eher eine Art "Diktatur auf Abruf" ansteht, die anlassbezogen Grundrechte bestimmter Gruppen aussetzt, darf eine emanzipatorische Linke dem nicht passiv gegenüber stehen. Einmal da ihre eigene Handlunsgfähigkeit, wie sich sehr deutlich während der Auseinandersetzungen änlässlich der Gipfeltreffen anhand von Ausreiseverboten und "Gewalttäterdateien" gezeigt hat, eingeschränkt wird. Zum anderen, da die Preisgabe der Grundsätze der bürgerlichen Demokratie eben keine Auseinandersetzung innerhalb des "Schweinesystems" darstellt. Vielmehr ist eine Absage an das bürgerliche Gleichheitsprinzip, wie sie besonders mit der Diskussion um das "Feindstrafrecht" oder die rassistischen "Ausländergesetze" deutlich wird, eine Absage an die Glücksversprechen der Aufklärung und damit das universalistische Projekt der radikalen Linken überhaupt. In und gegen eine bürgerliche Gesellschaft, die hinter ihre eigen Maßstäbe zurückfällt, ist die klassenlose Gesellschaft erst recht nicht zu machen. Gleichwohl heißt das, deutlich zu machen, dass das Ziel der Linken keine "Bürgerrechte", sondern eine Gesellschaft zu sein hat in der endlich jeder ohne Angst verschieden sein kann. Es gilt daher, erkämpfte Rechte der bürgerlichen Gesellschaft mit der Perspektive auf ihre Überwindung gegen den Rückfall in eine repressivere Zukunft zu verteidigen. Und dass dieser droht, wissen selbst eher weniger als Linksradikale bekannte Verfassungsrichter: "Es geht heute, wo man sich inzwischen an den grenzenlosen Einsatz technischer Möglichkeiten gewöhnt zu haben scheint und selbst die persönliche Intimssphäre, (...) kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis halt zu machen hat, darum nicht mehr nur den Anfängen eines Abbaus von verfassten Grundrechtspositionen, sondern einem bitteren Ende zu wehren, an dem das durch solch eine Entwicklung erzeugte Menschenbild einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie nicht mehr entspricht." (vergl. Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 3. März - Mindermeinung - 1 BvR 2378/98 und 1 BvR 1084/99) Dagegen ist es jedoch auch weiterhin möglich - und nötig - Widerstand zu konkretisieren und gegen die Pfeiler dieser Entwicklung vorzugehen. Egal ob dies nun Gesetzesverschärfungen, Sicherheitsunternehmen, repressive Bürgerinitiativen oder einfach die Kamera an der Ecke ist.

Gegen die reaktionäre Formierung - redefine resistance

Während Deutschland im europäischen Gewand seit Jahren auf dem Weg zur neuen Weltmacht ist, befindet sich die radikale Linke auf dem zielstrebigen Weg in die gesellschaftliche Unbedeutung. Die Isolation und Zersplitterung der im weitesten Sinne emanzipatorischen Linken findet dabei ihre Entsprechung in der reaktionären Entwicklung auf allen Ebenen der Gesellschaft, die zunehmend auch die Existenzgrundlage einer fortschrittlichen Gesellschaftskritik an sich in Frage stellt. Dabei ist die Linke jedoch nicht nur "zu schwach", um diesem Rollback unter dem Dach des deutsch-europäischen Standortes etwas entgegenzusetzen; vielmehr erweist sie sich als Teil des Problems, wenn sie die kapitalistische Vergesellschaftung faktisch in mundgrechte "Teilbereiche" zerlegt und so die Möglichkeit verhindert, der gesellschaftlichen Entwicklung als falschem Ganzen auf die Pelle zu rücken. Ohne die Entwicklung des globalen Kapitalismus ist der aktuelle Abbau der letzten sozialen Rechte schließlich ebensowenig zu erklären wie auch die mehr oder weniger begeisterte Unterordnung der Menschen unter die sogenannten Sachzwänge des deutsch-europäischen Standortes ohne die Umdeutung der deutschen Geschichte und der dazugehörigen Menschheitsverbrechen in einen moralischen Mehrwert für die Nation nicht funktionieren würde. Ohne die hinter dem Gelaber über "Sachzwänge" durchscheinende Entpolitisierung der Gesellschaft ist wiederum auch eine "Sicherheitspolitik" nicht denkbar, die gesellschaftliche Konflikte zunehmend nur noch als polizeiliche Probleme wahrnimmt und dementsprechend kriminalisiert. Und ohne einen mit diesen "Sicherheitsmaßnahmen" einhergehenden Diskurs über ihrerseits entpolitisierte "terroristische Bedrohung" durch einen der bürgerlichen Gesellschaft äußeren Feind würde sich wahrscheinlich auch nationale Identität weniger erfolgreich bewerben lassen. Anstatt nun diese Entwicklung als Ganzes anzugehen, reproduziert die Linke jedoch allzu oft die gesellschaftliche Ohnmacht und widmet sich isoliert "dem Geschichtsrevisionismus", "Sozialabbau" und "Sicherheitswahn", etc. ... Natürlich nicht ohne zu vergessen zu betonen, dass das "Thema" der jeweils anderen bestenfalls unbedeutend, schlimmstenfalls gar reaktionär ist. Näher an der Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit erscheint eine Analyse, die diese unterschiedlichen Phänomene in die Beziehung zueinander setzt in der sie sich befinden. Stellt mensch sich der Aufgabe, dies zusammenzudenken, so erweisen sich Geschichtsrevisionismus und Sozialabau, Sicherheitswahn und Sachzwänge, Nationale Identität und Entpolitisierung als verschiedene Aspekte desselben Problems: Der reaktionären Formierung der Gesellschaft im deutsch-europäischen Standort auf dem Weg zur Großmacht im globalen Kapitalismus. Was so versetzt wie gleichzeitig abläuft kann ohnehin nur aus idealistischer Verklärung als zufällige Abfolge von Ereignissen interpretiert werden. Verschwörungstheorie ist also nicht das Aufzeigen systemimmanenter Zwänge und prozessierender Kräfteverhältnisse, sondern die Erklärung der Welt aus der "willkürlichen" Entscheidung einzelner Charaktermasken. Aus der Erkenntnis der Notwendigkeit eines Kampfes, der sich nicht nur mit "allen Mittel", sondern vor allem auch "auf allen Ebenen" der Gesellschaft abspielen muss folgt dabei jedoch nicht, dass sich linksradikale Praxis nur noch abstrakt gegen das "falsche Ganze" richten darf. Vielmehr verweist es darauf, dass sich die Linke einen Begriff der Verhältnisse verschaffen sollte, die sie kritisieren will und muss. Darüber hinaus bleibt es unabdingbar, die verschiedenen Kämpfe in einer antikapitalistischen Bewegung gegen den "eigenen" Standort zusammen zu bringen. Dies wird ohne eine kritische Reformulierung der materialistischen Grundlage kritischer Theorie und eine Auseinandersetzung mit den "Klassikern" auf der Höhe der Zeit jedoch nicht zu machen sein. So sehr es schließlich keine Neuigkeit mehr ist, dass sich von PDS über SPD bis CSU die grundlegenden sozio-ökonomischen, sicherheitspolitischen und geschichtspolitischen Vorstellungen nur noch um Nuancen unterscheiden, so sehr reproduziert die Linke ein altbackenes Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Auch wenn die lokale Wirklichkeit oft davon abweichen mag und mensch wahrscheinlich auf lange Sicht mit dem Ortsverband der PDS mehr wird anfangen können als mit dem der CSU, so ist doch die grundlegende Programmatik unübersehbar. Mit dem Einverständnis mit dem nationalen Standort im globalen Kapitalismus ergibt sich ein reaktionärer Schulterschluss neuer Art. Dieser weist zwar sehr wohl massive Auseinandersetzungen und Brüche auf, diese ergeben sich jedoch allein aus abweichenden Meinungen zu Sachfragen der Standortverwaltung. Eine grundsätzlich andere Perspektive und damit überhaupt eine andere Perspektive kann dort nicht stattfinden, wo selbst "Politik", als die ehemalige Simulation von Auseinandersetzung nur noch die erklärte Exekution von dahinter aufscheinenden nationalen "Sachzwängen" ist. Und auch Gewerkschaften und Zivilgesellschaft (siehe Aufruf des BgR Leipzig zum 1. September 2001/ www.nadir.org/bgr) sind bei Staat und Kapital bekanntlich mittendrin statt nur dabei. Aus den apologetischen Auseinandersetzungen über die Verwaltung ergibt sich so im bürgerlichen Lager kein Kampf von Kräftverhältnissen mehr. Für die Linke gibt es da also nichts zu holen. Vielmehr können die einen nicht ohne die anderen und mit dem Abschied vom Projekt selbst der reformerischen Umgestaltung der Gesellschaft hat man sich dergestalt von jedem emanzipatorischen Anspruch verabschiedet, dass Konsensfindung und Kompromiss sogar denen als nationaler Selbstzweck erscheint, die - siehe DGB - offensichtlich abgewickelt werden. Nicht ohne Grund herrscht jenseits der Bissigkeit bei den letzten Themen an denen man sich noch öffentlich unterschiedlich profilieren kann eine gruselige Kantinenatmosphäre des nationalen Selbstbewusseins, das die unterschiedlichen "Interessen" überdeckt, die keine sind. Keinen Grund also gibt es mit den einen verständnisvoller als mit den anderen zu sein. Das Substrat dieser gesellschaftlichen Matrix unterschiedlichster Interessengruppen, die sich gegenseitig die Bälle zu spielt ist mithin eine angestrebte "optimale Verwaltung" des Standortes. Zeitgemäße, nationale Identität, das Einrichten in den miesen Verhältnisse ist das hegemoniale Projekt des Kapitals und Ergebnis eines mehr oder weniger freundlichen Zusammwirkens von Grünen und BdV, Gewerkschaften und BDI, das zwar stockt und auch mal ein wenig die Richtung ändern mag, jedoch wie eh und je Geschichte als Herrschaft "hinter dem Rücken der Menschen" vollzieht.

Kein weiter so...

Auch wenn es selbstverständlich gegen die Aufhebung des Kapitalismus im Hier und Jetzt rein gar nichts einzuwenden gäbe, ergibt sich jedoch aus dem gerade Skizzierten nicht der Rückzug auf den Standpunkt der abstrakten Negation. Vielmehr geht es darum, die Veränderung der globalen Produktionsverhältnisse und die sich auch daraus ergebende Formierung des deutsch-europäischen Standortes wirklich ernst zu nehmen - und anzugehen. Gerade deswegen ist der Versuch, gegen die unterschiedlichen Facetten desselben Standortes aktiv zu werden gegen den Vorwurf der inhaltlichen Beliebigkeit zu verteidigen. Konkret heißt das, über die Kritik an der "Linken", die Teil dieses Prozesses ist und an der Konstruktion einer (deutsch-europäischen) Identität nicht unwesentlich mitarbeitet hinaus, sich nicht nur in Konfrontation mit der kapitalistischen Wirklichkeit zu fühlen, sondern auch real zu begeben. Das bedeutet, sich jenseits linker Grabenkämpfe und mit Blick über den Tellerrand einzumischen, Präsenz zu zeigen und in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen konkret zu werden. Das Dagegen sein zu lokalisieren. Etwas anderes kann aus der so richtigen wie verbalradikalen Feststellung als emanzipatorische Linke - die sich ernst nimmt - ziemlich auf sich allein gestellt zu sein, nicht folgen. Schließlich ergeben sich aus Umbrüchen und Formierungen auch neue Chancen und die Erkenntnis mal wieder eine Chance verschlafen zu haben hat die Linke schon oft genug vorexerziert. Nun ist der Zustand jener radikalen Linken, die das überhaupt wollen könnten sicherlich nicht der Beste; als Entschuldigung für ein konzeptloses "weiter so" taugt diese Erkenntnis jedoch nicht. Vielmehr gilt es dann, vorhandene Kräfte zu organisieren. Der dagegen ins Feld geführte Einwand, es gelte erst einmal die Inhalte zu klären gleicht der schon vor der Katastrophe zurechtgelegten Entschuldigung, man habe ja nichts tun können. An dem "Beweis" nichts tun zu können stimmt dabei weniger als nichts. Veränderungen ergeben sich schließlich aus Perspektiven auf das Andere. Und diese wiederum nur aus Handlungen die zu Bewegung werden können. In diesem Sinne liegt es immer noch an der Linken, den Beweis zu erbringen, dass die menschliche Geschichte entgegen ihrem bisherigen Verlauf machbar ist. Und Kriterium für den Erfolg dieses nicht gerade bescheidenen Unterfangens ist nach wie vor nicht allein die Wahrheit, sondern deren Verwirklichung in die Wirklichkeit.

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14:00 Merianplatz: Demonstration und Konzert