Auf dem Pflaster fließt das Blut

Arbeiterkampf (AK) vom 21. Oktober 1985 - Hauptartikel

Frankfurt, den 28. September 1985, 20.54 Uhr. Ein Mann liegt auf der Straße, überfahren von einem Wasserwerfer. Es ist der 36-jährige Günter Sare, Arbeiter und Vorstandsmitglied im ältesten Frankfurter Jugendzentrum, dem JUZ Bockenheim. Über seinem Körper schlagen Polizisten auf einen zu Hilfe eilenden Jugendlichen ein. Günter Sare hatte gegen eine Veranstaltung der NPD demonstriert. Die Verantwortlichen erklären sich für unschuldig. Wer anderer Meinung war, bekam in Frankfurt und anderswo eine konkrete Ahnung, was Polizeistaat bedeutet

Drei Wochen nach der Frankfurter Katastrophe: Wie erwartet, hat sich die öffentliche Erregung gelegt. Wie erwartet, sind die militanten Aktionen abgeebbt. Wie erwartet, ist es der Poli zei schließlich gelungen, die Straßen vom sogenannten randalierenden Mob zu säubern. Mit Fleiß und Erfindungsreichtum sind die Medien bei der Sa che, das Geschehen zu verarbeiten, und die Politiker haben sich eine feste und telegene Meinung gebildet: Was wir schon immer für richtig hielten, hat sich auch dieses Mal bewährt. Der Alpdruck der Lüge hat die aufgewühlte Szenerie befriedet. Ruhe, Ordnung und Sicherheit herrschen wieder in den Städten. Es bleibt das direkte, greifba re Erleben von Geschichte in einer Krisensituation, und das heißt in diesem Land: Das direkte, greifbare Erleben von Gemeinheit, Niedertracht, Ent menschlichung. Es bleibt das Verstummen angesichts des Todes - Schweigen angesichts unbeantwortbarer Fragen, aber auch Schweigen angesichts der anderen Fragen, von denen man spürt, daß sie, obwohl man vor einfachen Antworten zurückschreckt, gräßlich einfach zu beantworten sind. Eben eine Mischung aus Gefühl und Verstand, die ganz folgerichtig harte Gegenstände in glitzernde Glasfassaden treibt, obwohl alle wissen, daß auch das Bersten der Scheiben keine Besserung verheißt. Es bleibt die Aufgabe eines mühseligen, komplizierten, Ungewissen und daher riskanten Denk prozesses, den vielleicht nur Wenige auf sich nehmen werden: Über die neue Qualität, daß die Polizei erstmals zum Schutz einer faschistischen Veran staltung über Leichen gegangen ist. Es bleibt der Verlust eines Menschenlebens, das unersetzlich ist, und die bittere Erkenntnis, daß man dieses Menschenleben erst jetzt wahrnimmt, wo Günter Sare tot ist.

Beginnen wir mit dem Geschehen. Ein wehrloser Mensch wird von einem rie­ sigen Wasserwerfer, einem Produkt sog. moderner Hochleistungstechnik, welches die Anforderungen polizeili cher Einsätze "optimal" erfüllen soll, totgefahren. Augenzeugen berichten: Es gab in jener Situation, an dem betreffenden Ort und zu der betreffenden Zeit, erstens keinen Anlaß für ein poli zeiliches Eingreifen. Eine kleine Grup pe von Demonstranten war dort von einem Wasserwerfer alten Typs vertrieben worden; Günter Sare stand allein im Strahl dieses Wasserwerfers und versuchte, in eine Seitenstraße zu entkommen. Er war also zweitens auf der Flucht - so wie Benno Ohnesorg in den Rücken geschossen wurde, und wie Klaus Jürgen Rattay von einem an greifenden Polizeitrupp vor einen Bus gehetzt wurde, und wie Olaf Ritzmann vor den Schlagstöcken auf die S-Bahn-Gleise sprang.

Flucht und Jagd

Drittens war die Szene mindestens durch die Suchscheinwerfer dieses Wasserwerfers hell erleuchtet. Ein zweiter Wasserwerfer, der todbringen de vom neuesten Typ,kam hinzu, rich tete seine Kanone ebenfalls auf den Flüchtenden, setzte sie in Betrieb, traf ihn und folgte ihm in die Seitenstraße hinein. Daraus ergibt sich viertens, daß die Besatzung dieses Wasserwerfers Günter Sare gesehen hat. Günter tau melt im Hochdruck-Strahl, versucht sich zu fangen, wird von dem Fahrzeug erfaßt und überrollt. Bremsspuren wurden nicht festgestellt.

Solches nennt man ... einen Unfall. Es ist nicht erlaubt, in diesem Geschehen eine Absicht - z.B., was nicht selten von Polizisten zu hören ist, "Euch kriegen wir noch" und "Dem zeigen wir's mal" - oder eine heimtückische Methode - z.B., was nicht selten vor kommt, die gezielte Jagd mit Wasserwerfern auf einzelne Personen - oder auch niedrige Beweggründe zu sehen - wie sie z.B. durch die totale Verhetzung von Polizisten gegenüber Demon­ stranten entstehen können, was übrigens auch nicht gerade selten ist.

Wer aber von Mord spricht, erhebt, auch wenn dies mehr politisch als juristisch gemeint ist, einen "ungeheuerlichen Vorwurf", begeht "Vorverurtei­ lungen", maßt sich eine "Richterrolle" an oder versucht, sich für politische Zwecke "Märtyrer" zu schaffen, was auf "Leichenfledderei" herausläuft. Da die Wucht dieser Ar gumente offenbar nicht für ausreichend gehalten wird, erstattet die Gewerkschaft der Polizei auch gleich Anzeige gegen alle, die diese Anklage aussprechen. Merke: Wer die Polizei von Schuld freispricht, maßt sich keineswegs ein vorschnelles Urteil an. Der bleibt fair und demokratisch.

Fair, objektiv, neutral und demokratisch präsentierte die Frankfurter Staatsanwaltschaft 14 Stunden nach dem Tod Sares eine erste Hypothese. Die Obduktion habe neben den tödlichen Verletzungen am Brustkorb eine Kopfverletzung ergeben, die nicht durch die Gewalteinwirkung des Was serwerfers erklärt werden könne. Möglicherweise sei ein Steinwurf die Ursache - man habe auch einen Stein in der Blutlache gefunden.

Von den Sanitätern, die dem Sterbenden sofort zur Hilfe eilten, hat niemand diesen Stein bemerkt. Auf den zahlreichen Fotos, die diese Situation dokumentieren, ist ebenfalls kein Stein nachzuweisen. Nach den Augenzeu genberichten auf Demonstrantenseite

Hat sich in den Sekunden des Geschehens überhaupt niemand in Wurfnähe zu Günter Sare befunden: Schließlich hat der Kommandant des todbringenden Wasserwerfers zwar bisher kaum etwas ausgesagt, jedoch soviel, daß er in/auf der Straße, in die er hineinfah ren ließ, überhaupt niemanden gesehen haben will - also Günter Sare nicht (was eine Schutzbehauptung ist), aber auch niemanden anders, der als Steine werfer infrage käme. Und noch etwas: Der Staatsanwalt, der die nächtliche Spurensicherung vor Ort leitete, war abgebrüht genug, aber auch dumm ge nug, die Hypothese vom Steinwurf schon dort ausführlich zu erörtern lange bevor die Obduktion vorgenom men war. Er tat dies laut genug, daß es von Herumstehenden mit angehört werden konnte. Um die Steinwurf-Version ist es mittlerweile arg still gewor den, sie läßt sich offensichtlich nicht aufrechterhalten.

Aber man hat es versucht, und das ist bezeichnend. Halten wir erstens fest: Pünktlich mit den offiziellen Er mittlungen begannen die Vertuschungen. Hier ist eine Gleichzeitigkeit zu registrieren, die man geradezu als Koinzidenz bezeichnen kann. Zweitens: Wer eine Hypothese konstruiert, die Schuld und Verantwortung an Unbekannt, tendenziell sogar an die Demonstranten selbst, also an die Opfer delegiert, der trifft keine Vorverurteilungen, der begeht keine Ungeheuerlichkeit, der lügt nicht einmal, sondern der vertritt eine berechtigte Auffassung im Rahmen der Meinungsfreiheit. Hier handelt sich lediglich um einen Irrtum von der Sorte, die die bürgerliche Öffentlichkeit ihrer Staatsanwaltschaft und ihrem Landeskriminalamt gern vergibt. Solche Irrtümer sind historisch gesehen Gewohnheitsrecht, und es ist zu fragen, warum eigentlich noch nie jemand auf die Idee gekommen ist, daraus ein echtes Gesetz zu machen, beispielsweise daß die fdGO die freie Wahl der Wahrheit durch die zuständigen (!) Instanzen voraussetzt. Klüger verhielt sich das Staats-Or gan Bild". Darin wurde am 30.9. in relativ sachlichem Tonfall verbreitet, Günter Sare sei auf der Flucht vor ei nem Wasserwerfer vor einen zweiten gelaufen, der hinter dem ersten vorbei gefahren sei. Diese Version legt nahe, daß einerseits Sare die Gefahr nicht er­kennen konnte, andererseits die Besatzung des todbringenden Fahrzeugs ihn nicht oder zu spät gesehen hat. Das entspricht der plausiblen und auch un ter Linken verbreiteten Vorstellung, daß im Grunde jeder Wasserwerfer- Einsatz in einem unübersichtlichen Demonstrationsgeschehen lebensgefährlich ist. Demgemäß bleibt es mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob und was dabei passiert. Allgemein ist das si cher richtig - doch die Wahrheit ist konkret.

Zwei Tage später wurde ein Foto veröffentlicht, welches Günter Sare in den Strahlen von zwei Wasserwerfern zeigt. Im Vordergrund ist eindeutig das Fahrzeug zu erkennen, welches ihn Sekunden später überfahren hat. Günter ist allein, er versucht zu fliehen, und die Situation auf der Straßenkreuzung ist völlig übersichtlich wie auch hell erleuchtet. Damit sind die übereinstimmenden Zeugenaussagen der Demonstranten bestätigt. So spielt sich kein Unfall ab. So sieht vielmehr eine Situation aus, in der ein panzerähnliches Fahrzeug eine gezielte Menschenjagd veranstaltet. Das Kräfteverhältnis lautete in diesem Fall: fünf Bullen, 26 Tonnen, 320 PS, 9000 Liter Wasser und zwei Rohre mit 15 Atü, den zwei ten Wasserwerfer nicht mitgerechnet, gegen einen Menschen. Dies wird durch den Begriff Staatsterrorismus vielleicht am treffendsten beschrieben. Das Foto sehe "schlimm" aus, räumte der hessische Innenminister Winterstein (SPD) ein. Allerdings handele es sich nur um eine "Momentaufnahme", die noch nicht erkläre, was sich vorher und hinterher abgespielt hat. Es blieb dem Spiegel (14.10.85) überlassen, den vorläufig letzten Versuch einer Manipulation zu präsentie­ ren. Gestützt auf die Aussage eines einzelnen Fotografen, die zudem nur höchst selektiv wiedergegeben ist, resü­ miert das Magazin: "Eine Art Spiel". Dem "Spiegel" kam es dabei weniger auf die Darstellung nachprüfbarer Fakten, sondern vor allem auf subjektive Eindrücke und Interpretationen an (siehe das durchaus davon verschiedene Gespräch desselben Fotografen mit der "FR", 15.10.!).

Selber schuld ...

Günter Sare habe dem (ersten) Wasserwerfer mutwillig getrotzt, als ob er den Helden spielen wollte. "Daß Konfrontationen zwischen Polizisten und Demonstranten mitunter fast spielerische Züge annehmen, so als spielten welche Haschen, ist gar nicht so selten. Für den übermütigen Tanz auf der Kreuzung gibt es womöglich aber noch eine andere Erklärung: Die gerichtsmedizinische Untersuchung von Sares Blut ergab einen Alkoholgehalt von 1,49 Promille." Es bleibt jedem unbenom men, auch als Nachrichten-Magazin von der dichterischen Freiheit Gebrauch zu machen und sich Vorstellungen über die letzten Sekunden eines ge töteten Menschen zu machen. Man sollte bloß so ehrlich sein, zuzugeben, daß solche Projektionen nichts über das objektive Geschehen, einiges jedoch über den "Dichter" sagen. Man sollte ferner ehrlich eingestehen, daß nach den geltenden Maßstäben auch ein wesentlich höherer Drogenkonsum nicht als Beeinträchtigung angesehen wird, solche Artikel in solchen Publi kationen zu schreiben.

Und wenn es wahr wäre, was der "Spiegel" in die Situation hineindichtet: Änderte das auch nur das Geringste am Sachverhalt? Könnte das die Vorwürfe gegen die Polizei abschwächen? Offensichtlich nicht. Und doch kann das liberale Vorzeige-BIatt der BRD nicht darauf verzichten, dem Opfer ein deutlich vernehmbares "selber schuld!" hinterherzurufen - eine nur noch als sadistisch zu begreifende, wenn auch keineswegs neue Reaktion. Diesen spezifischen Sadismus scheinen einige Leute jedoch dringend für eine bessere Nachtruhe zu brauchen.

Doch der "Spiegel" betet in diesem Fall tatsächlich nur das Zentralorgan nach, d.h. er konkretisiert das, was die "FAZ" sofort (Ausg. v. 30.9.) als Ur teil für das Gesamtgeschehen parat hatte: "Der Tod des Demonstranten ist das Ergebnis eines absichtsvollen Spiels (sie!) mit der provozierten Staatsgewalt." Daraus schimmert die Realität immerhin recht deutlich her vor. Die Polizei hat sich demnach "provoziert" gefühlt und entspre chend aufgeführt, wofür die "FAZ" Verständnis äußert. Dies bedeutet das Eingeständnis eines besonders harten und aggressiven Einsatzes, den die "FAZ" keineswegs aus der Situation heraus zu erklären versucht, etwa daß sich beide Seiten gegenseitig hochge schaukelt hätten o.a. Nein, es wird ausdrücklich eine politische Ursache angegeben und damit kommen wir zur Sache: "Diese Ereignisse von Frankfurt ... haben ihre Ursache in dem als Antifaschismus getarnten Willen von Staatsgegnern, die Polizei als Organ des Staates in die Nähe der alten und neuen Nazis zu rücken."

Weil man deutschen Polizisten vorwirft, Faschisten zu schützen, eben deshalb sind deutsche Polizisten, wenn sie Faschisten schützen, eben deshalb sind deutsche Polizisten einen Antifashcisten umzubringen. Die Polizei sit so beschaffen, dass sie sich, wenn man sie mit Nazis vergleicht, so empört, daß sie sich dazu "provozieren" lassen, gleicht, prompt wie Nazis verhält - offenbar ein glänzendes Beispiel einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Den Widerspruch kann man einstweilen als typisch stehen lassen; jedenfalls folgt erstens, daß die Polizei ihrem Ruf gerecht wird. Zweitens versucht die "FAZ", eine wenn auch seltsam an mutende Begründung für das empi risch nachweisbare Phänomen zu lie fern, daß beim "Schutz" von Nazi- Veranstaltungen häufig oder sogar regelmäßig besondere polizeiliche Härte angesagt ist.

Dies wirft die Frage nach den Ein satzbefehlen und der Planung der Polizei an diesem Abend auf. Ist am 28.9., wenige Minuten vor 21 Uhr, die Besatzung eines Wasserwerfers, geleitet von einem als Draufgängertyp bekannten Choleriker namens Reichert, ausgera stet? Gewiß - aber die Frage lautet, wie es dazu kommen konnte. In den hessischen Dienstvorschriften über den Einsatz von Wasserwerfern heißt es, daß diese nur in Begleitung eines Trupps oder Zuges von Polizisten vor rücken dürfen; lediglich in Notsituatio nen dürfe diese Regel gebrochen werden. D.h. daß ein Wasserwerfer, wenigstens auf dem Papier, normalerweise hinter einer oder mehreren Reihen Uniformierter herfährt. Das war auf der nach Auswertung des Fahrten­ schreibers insgesamt 115 Meter langen Todesfahrt von WaWe IV-1 nicht der Fall, von Anfang an nicht. Die Wasser werfer-Besatzung bekam also einen Einsatzbefehl wie in einer "Notsituation", obwohl keine Notsituation vor lag (dies wird ja nicht einmal von der Polizei selbst behauptet).

Zwei Erklärungen sind möglich. Zum einen ist es eine früher häufig ge übte Praxis gewesen, zum Zweck der Aufhetzung angebliche Notfälle zu melden, die sich später als glatte Lüge herausstellten. Da war über Polizeifunk schon mal zu hören gewesen, ge rade sei ein Kollege mit einer Eisen stange niedergemacht oder gar totge schlagen worden. Zum anderen liegt die Vermutung nahe, daß Einsatzleiter Rehmann gehalten war, an diesem Abend die Dienstvorschriften "großzügig" auszulegen.

Tatsächlich wurde gegen 19.45 Uhr, als vor dem NPD-Versammlungslokal Scharmützel zwischen Antifaschisten und der Polizei ausbrachen, ein Funk spruch aus dem Frankfurter Polizeipräsidium abgehört. Wortlaut: "Dies mal nicht wie bei der Südafrika-Demo!" Bei dieser Demonstration, fünf Wochen zuvor, hatte die Polizei relativ zurückhaltend agiert; die Scheiben einiger Banken waren zu Bruch gegangen, woraufhin die Frankfurter Reaktion in ein lautstarkes Wutgeheul ausbrach. Schuld sei das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsge richts, das die Ordnungsmacht am Durchgreifen hindere, "Liberalität" und "Laxheit" seien nicht mehr zu er tragen usw. usf.

Es existierte also eine ausdrückliche Anweisung der Frankfurter Polizeiführung (Gemmer, Vogel), hart vorzugehen, und das heißt: Hemmschwellen, sofern vorhanden, werden gesenkt. Diese Anweisung wiederum deckte sich in mehrfacher Hinsicht mit der politischen Landschaft. Hier ging es nicht um polizeiliche Techniken, hier ging es um Polizei-Politik.

Erstens ist der permanente Lärm aus den Reihen der CDU/CSU für eine Verschärfung des Demonstrations rechts Anlaß für geistesverwandte Polizeistrategen, Öl ins Feuer zu gießen und dann vollendete Fakten zu schaffen. Zweitens ist man im Frankfurter Präsidium seit geraumer Zeit ent schlossen, den "Startbahn-Chaoten", also einem anhaltenden sozialen Widerstand mit beträchtlichem politischen Erfahrungsschatz, den Garaus zu bereiten. Drittens sind die "Sicherheits"-Politiker seit diesem Sommer dabei, eine neue Phase der "Terrorismus-Bekämpfung" einzuleiten, und so unglaublich es für manchen heutigen Ökopax-Aktivisten klingt: Noch vor zehn Jahren wußte die Linke nur zu gut, daß jede solche Antiterrorismus- Kampagne auch auf der Straße ausgetragen wird, wenngleich dies keineswegs das Terrain der RAF ist.

Helden am Bildschirm

Zwei Tage bevor der Wasserpanzer zu seiner finalen Aktion startete, flimmer­te eine maßlose Hetz-Sendung jenes Gerhard Löwenthal über das ZDF, der nicht nur als Sprachrohr rechtsradik ler Geheimdienstkreise fungiert, sondern sich auch keine Mühe gibt, dies etwa journalistisch zu verbrämen. In dieser Sendung nutzte der ehemalige Hamburger Verfassungsschutz-Chef Horchern das Schlußwort einer Gesprächsrunde sogenannter Experten zu einem eindeutigen und unmißverständlichen Aufruf: Terroristen auch zu töten. Wohlgemerkt, da war nicht von Notwehrsituationen die Rede. Es hieß nicht: Wenn die Terroristen unbeteiligte Geiseln bedrohen, dann ... Es ging auch nicht um eine Einführung der Todesstrafe. Es war ein nackter, nicht weiter relativierter Aufruf zum Mord. Dieser Aufruf kam kühl und überlegt - Horchern hatte als "Fachberater" Herrn Löwenthal bei der Vorbereitung und Produktion der Sendung zur Seite gestanden. Gesprächsteilnehmer Boeden, Leiter der Terrorismus-Abteilung des BKA widersprach nicht. Und der GSG9-Führer Wegener "Held von Mogadischu pflichtete bei: Konzes sionen dürften nicht gemacht werden. Horchern selbst hatte vor diesem gespenstischen Sendeschluß (nachfolgend wie üblich die Nationalhymne) ausdrücklich die sog. Sympathisantenszene aufs Korn genommen. Diese bestünde aus einem klar überschaubaren und vom sonstigen Protestpotential isolierten Kreis von bis zu 2.000 Personen. Bei einer so hohen Zahl kann sich jede(r) ungefähr ein Bild machen, wer alles gemeint sein könnte - jedenfalls weit mehr als diejenigen, die sich selbst so verstehen. Von diesen Sympathisanten werde die RAF auch noch "negativ beeinflußt", nämlich daß sie "keine Geiseln mehr" nehmen (sondern gleich schiessen) solle. Dieser Vorwurf - Bruder Goebbels winkt aus der Hölle! - wiegt offenkundig weit schwerer als alles, was eine Woche später landauf, landab über Chaoten, Gewalttäter, Randalierer, Plünderer, Brandstifter etc. zu lesen war. Man muß sich gründlich vor Augen halten, welches infame Bild hier erzeugt wurde - ein Bild, das der Polizeiapparat oder jedenfalls beträchtliche Teile da von mühelos auf militante Demonstrantengruppen überträgt.

Die "FAZ" besprach die hem­ mungslose Horrorshow wohlwollend. "Jetzt werden die Handschuhe ausgezogen", nachzulesen in der Ausgabe vom 28.9. Die Prognose sollte sich schnell erfüllen. Am Abend war Gün ter Sare tot.

Wenn es richtig ist, daß "Bild" politisch-publizistisch verantwortlich war für das Attentat auf Rudi Dutschke, dann trifft ZDF und FAZ eine Mitschuld an der tödlichen Frankfurter Demonstranten-Jagd. Freilich sind die Schreibtisch- und Mikrophon-Täter heute in der glücklichen Lage, sich mit demokratischem Protest nicht herum schlagen zu müssen. Für die einen ihrer Widersacher sind sie nicht besonders beachtenswert. Sie sind halt "System" und das System reicht nun einmal vom BND bis zu den Grünen, von der FAZ bis zur taz. "Ein Schwein wie das an dere Schwein."

Für die anderen ihrer Widersacher gibt es diesen ursächlichen Zusammen hang nicht. Sie sind der Meinung, es hätte jeden treffen und bei zahllosen Demonstrationen ebenso passieren können: an der Startbahn, beim Häu serkampf, bei Anti-AKW-Demonstra tionen. Man sei immer mit der gleichen Polizeimaschine konfrontiert und diese sei nun einmal mörderisch. Dies ist ebenso richtig wie unvollständig.

Als etwa der Startbahn-Konflikt im Oktober 1981 in die Phase seiner größten Massenhaftigkeit eintrat, gab es ganz andere Auffassungen über den Charakter der Polizei. Es hieß damals, die Ordnungstruppen seien weitgehend zersetzt; ständig wurden Meldungen über angebliche Befehlsverweigerung kolportiert. Noch heute klingen einem die Megaphon-Durchsagen im Ohr, siebzig Polizisten hätten ihren Dienst quittiert, "jetzt sind es schon über hundert", drei hätten geweint und einer nach seiner Mama gerufen. Diese Gerüchte, die mindestens maßlos über trieben waren, reflektierten lediglich ein bestimmtes, relativ zurückhaltendes Vorgehen der Polizei, das nicht einmal eine Woche anhielt.

Wichtig ist, zu erkennen, daß diese Maschine unterschiedlich eingesetzt wird, daß die Art ihres Einsatzes vorab präzise festgelegt wird, und daß damit selbstverständlich auch politischer Einfluß genommen wird. Um ein (viel zu einfaches) Bild zu brauchen: Die Maschine hat zwölf Gänge, die auf Befehl eingelegt werden, und innerhalb dieser Gangarten besteht noch die Möglichkeit, zu beschleunigen oder abzubremsen. Von letzterer wird allerdings kaum Gebrauch ge macht. Man sollte sich auch vergegen wärtigen: Mehr als die "niedrigen Gänge" haben wir noch gar nicht kennengelernt.

Uhrwerk grün

Diese Maschine funktioniert. Wie sie funktioniert, das konnte man in beson ders zynischer Weise in der Stunde Null, als Günter Sare überrollt war, er leben. Von den ersten Sekunden da nach existiert ein Foto, welches Polizi sten zeigt, wie sie über dem Sterbenden einen zur Hilfe eilenden Jugendlichen wegprügeln. Dieses Bild kündigt an, was in den folgenden Stunden und Tagen in Frankfurt passieren sollte: Die gewaltsame Niederschlagung von Trauer und Protest auf eine Weise, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren konnte: Denen reicht es nicht, die müssen auf dem Toten noch her umtrampeln.

Denn was auch immer dann passierte, und egal, ob die geltende Verkehrs-, Kleidungs-, Eigentums- und Brandschutzordnung dabei beachtet wurde oder nicht - es war Trauer und Pro test und das unterscheidet die Menschen, die daran teilnahmen, in äußerst vorteilhafter Weise vom Rest dieser Gesellschaft. Auf diese winzige Min derheit wurde die Maschine losgelassen, angetrieben durch eine schäumen de Presse und eine Politikerriege von Wallmann bis Kohl ("Das sind Verbrecher"), die sich alle Mühe gab, die Kehrseite bürgerlicher Gemütlichkeit bekannt zu machen. Bei der Gruppe der uniformierten Täter war keine Schrecksekunde wahrzunehmen, kein stockender Atem, kein Sinken des erhobenen Schlagstocks, nicht einmal ei ne wenigstens formal höfliche Geste gegenüber der Familie des Toten. Die Frankfurter Polizeiführung erfand den Satz, man sei,, von dem tragischen Un glücksfall genauso betroffen". Ob das "genauso" nun der Dummheit oder Gedankenlosigkeit entspringt - es muß wie Hohn klingen.

Kommen wir abschließend zu demje nigen Bereich des politischen Hintergrunds, der nicht nur im Dunkeln liegt, der auch aus triftigen Gründen un­ heimlich ist, an den man sich folglich aus Angst vor schlimmen Entdeckun gen nicht herantraut. Mit heftiger emo tionaler Abwehr, teilweise sogar ag gressiv reagiert ein beträchtlicher Teil der Linken auf den, freilich durch die Realität vorgegebenen, Zusammen hang von Polizeiterror und NPD-Veranstaltung. Es sei doch irre, schrie et wa eine Frau auf einem teach-in in Frankfurt, zu glauben, der Tod des Demonstranten habe mit dem Anlaß - Protest gegen Faschisten - zu tun. Rein zufällig sei es an diesem Abend passiert; wer etwas anderes behaupte, sei völlig bescheuert. Rein zufällig, völlig bescheuert. Rein? Völlig? 70Teil nehmer bei der NPD, diese lächerli chen 70 Leutchen, heißt es immer wie der, das könne doch kein wirklicher Anlaß gewesen sein.

Etwas distinguierter, aber auch härter formuliert es der Frankfurter "Pflasterstrand": Dies habe auch kein wirklicher Anlaß zum Demonstrieren sein können. "Der Totschlag an der Frankenallee kommt aus .heiterem Himmel' - anläßlich einer Gegen kundttebung zu einer ins proletarische Galusviertel abgedrängten NPD-Parteitagsveranstaltung von der niemand et was wußte oder wissen wollte. Außer jenen Parteidemonstranten und Auto nomen, die an einem solchen. Ereignis noch und immer wieder ihre politische Identität erproben. Da war kein so zialer Konflikt oder politischer Kampf - wie etwa um die Startbahn West - zum Ausdruck seiner Ernsthaftigkeit gekommen, nein, die Organisation der staatlichen Zwangsmittel plus Polizistenpsychologie bewies ihre banale Fähigkeit zu töten. " (PS, Nr. 220)

Verdrängungen

Nein, da war gar nichts. Nichts, nichts, nichts! Da war kein Bitburg in diesem Jahr. Keine Verneigung vor SS-Gräbern. Keine Aufforderung, daß wir zur Vergangenheit unserer geliebten Na tion wieder stehen sollen. Keine aufgestaute, aber in Meinungsumfragen sichtbare Volkswut, daß man es end lich satt habe, immer wieder an Auschwitz erinnert zu werden. Da war keine Stimmung gegen Antifaschis mus, diese schlimmste aller Miesma chereien gegen Deutschland.

Und sollte es das alles doch hier und da gegeben haben - dann jedenfalls nicht bei der Polizei. Bei der Polizei gibt es kein faschistoides Untermenschenbild von Staatsfeinden. Bei der Polizei gibt es keine Ausländerfeind lichkeit. Bei der Polizei gibt es keine Ordnungsvorstellungen, die von denen der NPD nicht mehr zu unterscheiden sind. Bei der Polizei gibt es keine NPD-Wähler und keine NPD-Anhän ger. Sowas gibt es in Frankreich, in den USA natürlich, in der Schweiz, Italien logo, auch Österreich. Aber nicht in der Bundesrepublik. Oh nein!!! (Wie stünden wir denn da, wenn das rauskä me ...)

Wenn aber die Maschine Polizei am 28.9.85 auf eine harte Gangart eingestellt worden ist, wenn der Befehl, kompromißlos durchzugreifen, gege ben worden ist, wenn es also eine Pla nung gegeben hat, die notwendigerwei­se die Wahrscheinlichkeit von schweren Verletzungen und sogar Toten er­ höht, dann haben die beteiligten Politi ker und Polizeiführer in dem Bewußt sein gehandelt, daß dies zum Schutz von Faschisten geschehen sollte. Sie haben ihr Gewaltmonopol auffahren lassen und tödlichen Gebrauch davon gemacht, obwohl oder gerade weil oder auch unabhängig davon, daß es der NPD zugute kam. Darauf muß eine Antwort gefunden werden. Es kann keinen Versuch einer konkreten Analyse geben, wenn diese Frage ausgeklammert wird.

Politische Kämpfe und Identitäten kann man sehr unterschiedlich bewerten. Wir möchten nicht versäumen, dem "Pflasterstrand" auch hierin zu widersprechen: Kleine antifaschistische Aktionen können ernsthafter, für manche Beteiligte sogar beträchtlich ernsthafter sein als große Naturschutz- Demos.

Auf dem schon erwähnten teach-in, welches durch Eierwürfe auf ehrwürdige Studentenpäpste, Schlägereien zwi schen schwarzen und GRÜNEN Blöcken und andere Belanglosigkeiten einen kurzfristigen Nachrichtenwert errang, hielt eine Frau aus dem frühe ren Frankfurter Frauen-AStA einen von allen Selbstdarstellern geflissent lich überhörten Beitrag, in welchem sie versuchte, Erinnerungen an ein Ge spräch mit Günter Sare wiederzuge ben. Dieser habe die NPD nur für die sichtbare Spitze eines Eisbergs gehalten. Sehr viel relevanter und sehr viel gefährlicher sei der weniger sichtbare Teil des Rechtsradikalismus, den Gün­ ter im Staatsapparat und in der CDU/CSU ansiedelte. Insgesamt wer­de der Rechtsradikalismus in der Bun­ desrepublik seit Jahren unterschätzt.

Da kann es einem kalt den Rücken herunterlaufen.

De. Frankfurt