Der Abend des 28. September 1985 - Der Todestag Günter Sares

Redebeitrag auf der Kundgebung zum 20. Todestag von Günter Sare am 28. September 2005

Der Abend hatte nichts Besonderes für mich zu bieten. Eine NPD-Saalveranstaltung wurde in dieser bewegungsreichen Zeit eher als Routine abgebucht. Ich hatte eine Konzertkarte in der Tasche und wollte mich nicht allzu lange im Gallus aufhalten. In dem Aufruf zu der Gegenkundgebung wurde zwar vor einem harten Polizeieinsatz gewarnt, aber wir waren in keiner Weise in Sorge und wollten rechtzeitig in der Batschkapp sein.

Bevor ich zum Haus Gallus gegangen bin, saß ich noch etwas im noch nicht eröffneten LZ (Libertärem Zentrum) und bin dann mit anderen, die auch kein so großes Interesse an dem „Ausländerfreundschaftsfest“ hatten, (wir waren auch nicht besonders daran interessiert an einer DKP dominierten Veranstaltung teilzunehmen) zum Beginn der Blockadeaktion losgegangen.

Gegen ca. 16:30 Uhr stehen wir an den Absperrgittern im Grünstreifen der Frankenallee, die das Haus Gallus großzügig umgeben. Eine halbe Stunde später treffen die ersten Nazis ein. Es kommt immer wieder zu Rangeleien und nicht wenige NPDler müssen abziehen. Die Polizei macht immer wieder Ausfälle um Faschisten den Zugang zu ihrer Veranstaltung zu ermöglichen, wir sind trotzdem recht zufrieden mit dem Ergebnis der Blockade. Es gab zwar einige Verletzte, aber nichts wirklich dramatisches. Leider wurden auch zwei Menschen voreilig als NPD Sympathisanten „enttarnt“ und verprügelt.

Als es schon Dunkel ist und von den ca.1200 Menschen nur noch ca.500 übrig sind, fängt die Polizei an mit Schlagstock und WAWE die Blockade abzuräumen. Es entsteht ein Hinundher und es gibt die ersten schwerer Verletzten. Eine Auseinandersetzung mit der Polizei war nicht Ziel der Veranstaltung und die immer weiter abbröckelnde Beteiligung machte uns mittlerweile doch Sorgen. Es gab leider keine Verabredung, wann die Aktion gemeinsam beendet werden soll. Aus heutiger Sicht einer der größten Fehler, der sicher auch heute noch gerne wiederholt wird.

Ich habe zu diesem Zeitpunkt mit den Menschen mit denen ich zusammen nach Frankfurt gefahren bin entschieden, unser Freizeitprogramm zu beginnen. Wir standen zwischen Farbenladen und Zeitungsente auf Höhe Eingang Haus Gallus, wir wollten diesen Moment relativer Ruhe nutzen und uns auf den Weg machen. Der Neuner WAWE mit der Bezeichnung römisch IV/1 und dem berüchtigten Kommandant Reichert steht auf der anderen Seite des Grünstreifens vorm Haus Gallus. Als er anfährt habe ich gerade meine Sanikennzeichnung ausgezogen. Ich verfolge den WAWE mit den Augen, wie er in die Hufnagelstr. abbiegt. Später wundere ich mich, dass er nur 23 km/h gefahren ist. Der Einsatzleiter soll den WAWE mit den Worten “unterstützen sie die Einsatzkräfte im Kreuzungsbereich“ losgeschickt haben.

Ich packe meinen Sanilatz in meine Sanitasche, bin kurz abgelenkt, kann die Kreuzung von meinem Standpunkt sowieso nicht richtig einsehen. Das dumpfe Geräusch, das beim Überfahren von G. Sare entstand, kann ich noch nicht einordnen. Es entsteht plötzlich viel Bewegung, nur der WAWE ist zum Halten gekommen. „Mörder, Mörder“ Rufe von der Kreuzung, ich sehe eine Person auf der Kreuzung liegen. Der nächste Polizeiausfall verdeckt die Sicht. Wir rennen auf die Ecke zu und werden sofort zurück geprügelt. Mir ist nicht ganz klar was eigentlich passiert ist. Ich ziehe meine Kennzeichnung wieder an, hinter mir weint ein Genosse und wiederholt immer wieder fassungslos: Rattay. Glauben kann ich es immer noch nicht und die Verbindung zu dem, von den Bullen 1981 während einer Räumung in Berlin vor einen BVG-Bus getriebenen, Klaus-Jürgen Rattay weigere ich mich zu sehen.

Mein Versuch zu dem Verletzten zu kommen wird von den Einsatzkräften vereitelt. Sie quittieren unsere Forderung den Weg freizugeben um erste Hilfe zu leisten mit Hohn, sie sind in keinster Weise verunsichert. Ich laufe um den WAWE, aber auch auf der anderen Seite ist kein Durchkommen. Ich sehe, dass andere Menschen bereits von Polizisten umringt bei dem Verletzten knien und gebe mein Vorhaben auf. Ich gehe wieder um den WAWE zurück um zu meinen Leuten zu kommen. Die Wasserwerferbesatzung hat mittlerweile mehrere Dosen Coke aufgerissen und mir scheint sie prosten sich feixend zu. Von der S-Bahnbrücke werden Polizisten mit Steinen beworfen. Die Auseinandersetzung findet jetzt Stadteinwärts statt. Die Situation ist völlig unübersichtlich geworden. Auf der Kreuzung bemühen sich die Sanis um den Verletzten, die Zeit bis der Rettungswagen eintrifft wird endlos. Endlich ist er da. G. Sare wird eingeladen und weggefahren. Einer der Ersthelfer steht mit einem Mega auf der Kreuzung und sagt, dass der Verletzte zum Zeitpunkt des Verladens noch gelebt habe. Das wirkt nicht wirklich beruhigend auf uns. Die Erkenntnis, dass es kaum möglich ist von einem 23t schwerem Wasserwerfer überfahren zu werden und das zu überleben macht sich breit. Es bildet sich eine Demo in Richtung Polizeipräsidium (damals noch am Platz der Republik, Mainzer Landstr./Friedrich-Ebert-Anlage). Ich bleibe auf der Kreuzung. Immer wieder denke ich: es war doch alles schon rum. Ein Mensch aus unserer Gruppe hat einen blutgetränkten Lappen an einen Stock gebunden und rennt damit schreiend vor der Absperrung auf und ab. Wir versuchen ihn zu beruhigen. Irgendwann sitze ich mit ihm total erschöpft vor dem LZ und sehe Flammen aus der Benzniederlassung schlagen. Sie werden mit Beifall begrüßt. Wie lange wir noch dem Spektakel beiwohnen weiß ich nicht mehr. Ich gehe noch mal zur Kreuzung zurück. Dort ist inzwischen ein Staatsanwalt eingetroffen und in der Blutlache liegt ein Stein. Er soll die erste Lügenversion beweisen, nachdem Günter von einem Stein getroffen wurde und deshalb vor den WAWE fiel. Spät nachts gehen wir nach Hause.

Am Sonntag früh wird eine Mahnwache eingerichtet und hauptsächlich vom VVN getragen.

Nach dem die Sonntagsspaziergänger informiert wurden, kam es an der Startbahn zu massiven Auseinandersetzungen. Dort war die Empörung groß. Die Menschen hatten auch dort schon Jahre lang genug Erfahrungen mit Polizeigewalt gemacht und die Stimmung: jetzt reicht es machte sich überall breit.

Am Abend waren ca. 2500 Menschen auf dem Paulsplatz. Der Hass war greifbar, die Wut riesig. Überall wurde das Pflaster ausgegraben und mit den Füßen weiter geschoben, so das alle was abbekommen konnten. Mit dem Fronttransparent „Die Trauer in Kraft verwandeln. Günter Sare von der Polizei ermordet“ ging es Richtung Theaterplatz. Dort gelang er der Polizei die Demo zu teilen. Das vordere Stück wurde dann durch die entglaste Münchnerstraße zum Bahnhofsplatz getrieben. Dort kam es zum ersten großen Polizeikessel der Geschichte. Später auch zu den massivsten Zerstörungen die der Gewahrsamsknast Klapperfeld je erlebt hat. Der WAWEeinsatz durch die Zellenfenster dürfte auch eine ganz neue Sache gewesen sein.

In den folgenden Tagen kommt es immer wieder zu mehr oder weniger gelungenen Demoversuchen. Wir waren kaum mehr in der Lage unsere Wut auf die Straße zu tragen, da wir weder der hemmungslosen Polizeigewalt noch der Medienhetze etwas Adäquates entgegen zu setzen hatten. Bürgermeister Wallmann lies alle Versammlungen verbieten. Nur die Beerdigung und der Trauermarsch vom Gallus zum Höchter Friedhof blieben relativ unbehelligt. In Frankfurt machte sich das Gefühl von besetzter Stadt breit. Um die 2000 Beamten waren fast ständig im Einsatz. Es wurde mancherorts nachts mit unbeleuchteten Wannen Streife gefahren, auch kleine Gruppen wurden sofort angegriffen, Verletzte einfach liegengelassen.

Am SO wurde am Rande des Kessels eine Frau so schwer verletzt, das sie einen hohen Querschnitt erlitt. Die Krankenkasse verweigerte ihr die Unterstützung, mit der Begründung, sie hätte sich mit einem Demonstrationsteilnahme wissentlich selbst in Gefahr gebracht und müsste für die Folgen auch selbst aufkommen. Die Wut wurde sicher nicht kleiner in diesen Tagen. Die Angst aber stärker.

Die Grünen verabschiedeten sich endgültig von der Bewegung. Nach kurzer Unterbrechung der Koalitionsverhandlungen mit Dachlattenbörners SPD und der abgeschmetterten kleinlauten Forderung nach einem Untersuchungsausschuss wurde Fischer Umweltminister und die Grünen stimmten für den Kauf neuer WAWEs. Was heute selbstverständlich klingt, war damals für viele Menschen Verrat.

Die Solidarität, im In und Ausland tat uns sehr gut und hat auch das Gefühl der Ohnmacht gedämpft. In vielen Städten gab es spontane Demos und nicht wenige militante Aktionen.

Auch in anderen europäischen Städten kamen in dieser Zeit Menschen bei Demonstrationen um oder wurden wie z.B. Hans Kock, in Amsterdam der bei einem Wiederbesetzungsversuch nach einer Häuserräumung im Treppenhaus von einem wartenden SEK erschossen.

Es gab Tote in Athen, Amsterdam und Paris, in Brixton wurde auf einen Menschen bei einer Polizeikontrolle geschossen. Die Wut entlud sich in tagelangen Sraßenkämpfen und nicht nur dort. Auch es keine direkten zeitlichen oder inhaltlichen Bezüge gab, war immer ein Gefühl des gemeinsamen Kampfes gegen Unterdrückung und Repression, dass Europaweit eine Verbindung herstellte.

Es gäbe sicher noch viel zu erzählen, aber wir wollen heute erst mal nur einen Anfang machen und vielleicht ergeben sich noch einige Fragen und das gemeinsame Interesse, sich der eigenen Geschichtslosigkeit entgegen zu stellen.

Redebeitrag zum Auschwitzprozess im Haus Gallus