„Aus einer Ferne, die ihr Heute ist, sieht sie sich selbst mit einiger Verwunderung und auch mit Scham,
doch damals sieht sie nur, was alles möglich ist.“ (Seite 181)
„Kein Wunder, könnte man jetzt denken, bei diesen günstigen Bedingungen, dass aus der Tochter wurde,
was dann aus ihr wurde und was der Klappentext, schon weil die Fülle von Jahrzehnten Taten Mühen
weit über jeden Buchdeckel hinausragen, nur schlecht zusammenfasst. Wenn es so wäre, dass die
Bedingungen allein die Zukunft vorgeben, wären wir jegliche Verantwortung, jedes Gefühl für Schuld,
jedes Gewissen los.“ (Seiten 10 -11)
Wie lässt sich Geschichte aus heutiger Perspektive erzählen? Wie kann dies literarisch wertvoll gelingen? Welche Form bzw. Formen eigenen sich dafür? Inwiefern hängen die Erzählung sowie die Wahrnehmung der Geschichte mit der eigenen Positionierung zusammen? Und welche Zusammenhänge gibt es zwischen der Geschichte und der Gegenwart? Dies sind Fragen, die sich gegenwärtig aktueller denn je aufdrängen. Und ebensolche Fragen, verhandelt Anne Weber in ihrem Buch „Anette, ein Heldinnenepos“ auf beeindruckende Weise.
Anne Weber erzählt die Geschichte von Anne Beaumanoir, einer französischen Frau, die in der Resistance, in kommunistischen Gruppen und in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung gekämpft hat. Während Anne Beaumanoir ihre Geschichte in Form einer Autobiographie bereits aufgeschrieben hat, versucht Anne Weber ebendiese Geschichte in einer literarischen Form zu erzählen, aber nicht in Form eines historischen Romans. Dabei scheint sie sich viele
Gedanken darüber zu machen, wie es möglich ist, diese beeindruckende Geschichte zu erzählen, ohne der Protagonistin etwas anzudichten und mit der Verantwortung sowie den Privilegien der eigenen Position, als distanzierte und nachträgliche Betrachterin und Erzählerin, verantwortungsvoll umzugehen. Sie versucht für ihre Erzählung eine Form zu finden, die Geschichte nicht objektiv erscheinen lässt, die Jetzt-Zeit und die eigene Position in Verbindung bringt mit dem Vergangenem und die gleichzeitig die Historie und ihre Erzählungen zu hinterfragen sucht. Dafür hat Anne Weber sich die Form des Epos ausgesucht und eine Erzählinstanz geschaffen, die die Erzählung immer wieder kommentiert Und es ist ihr wunderbar gelungen. Sie hat mit ihrem Epos eine literarische Form gefunden, die der beeindruckenden, komplexen, spannenden und widersprüchlichen Geschichte Anne Beaumanoirs gerecht wird.
Erzählungen und das Verständnis von Geschichte sind auf das Engste miteinander verknüpft und formen ebendies. Daher gibt es eine Fülle an historischen Erzählungen, denen bestimmte Perspektiven und Narrative inhärent sind, da als elementares Moment kulturellen Wissens und Gedächtnisses fungieren und somit gesellschaftlich sowohl hoch relevant als auch präsent sind. Anne Weber ist sich dessen bewusst und hat einen Weg gesucht, um mit diesen stark aufgeladenen und teils determinierten Bildern und Narrativen in (historischen) Erzählungen umzugehen und etwas Neues und Anderes zu kreieren. Hierfür scheint das Epos eine sehr gelungene Wahl zu sein, da diese – heutzutage besondere – Form die von ihr geschaffene besondere Erzählinstanz ermöglicht. Durch diese kommentative Erzählinstanz gelingt es Anne Weber eine Geschichte zu erzählen, bei der die Leser*innen sehr wohl viel Empathie mit der Protagonistin aufbringen, jedoch nicht in einen Identifikationszwang mit ebendieser kommen. Die Form stellt die Mittelbarkeit der Erzählung – durch die Kommentare – in den Vordergrund, dadurch spielt die Autorin mit den Erwartungshaltungen der Leser*innen. Sie verbalisiert ebendiese, spricht die Leser*innen direkt an, stellt Fragen an sie, weckt herrschende Narrative und konterkariert diese gleich wieder. Des Weiteren nutzt sie die Kommentare, um Verbindungen der Historie zur Jetzt-Zeit herzustellen, bestimmte Geschehen zu kontextualisieren und Vergleiche von Handlungen und Parallelen in geschichtlichen Ereignissen zur Gegenwart und der Realität der Leser*innen zu ziehen. Dies fördert ein Verständnis von Geschichte, das diese nicht als abgeschlossenes in sich stimmiges Gebilde sieht, sondern sich kontinuierlich verändert und weiterentwickelt. Anne Weber verdeutlicht die Notwendigkeit und den Einfluss von Aushandlungen und Diskussionen über und auf die Geschichte. Durch das Beziehen ihrerseits auf gängige Narrative, macht sie diese erst kenntlich und versucht andere Interpretations- und Auffassungsmöglichkeiten historischer Geschehen zu schaffen.
Anne Weber hat mittels der Form des Epos und der darin geschaffenen Erzählinstanz eine literarische und ästhetische Form einer Erzählung generiert, die wie eine Art Dialog zwischen der Erzählinstanz und den Leser*innen fungiert. Die Erzählung ist eine Art interaktiver Prozess der Geschichtserzählung, der sich an einer Deutung der Geschichte versucht, diese jedoch zu Debatte stellt und gleichzeitig nach der Bedeutung dieser Historie für die Gegenwart fragt. Dabei operieren die Kommentare in gewisser Art und Weise auf einer Meta- Ebene der Erzählung, indem sie zwar Teil der Erzählung sind, jedoch auch außerhalb dieser stehen. Die Erzählinstanz reflektiert während ihrer Erzählung über eben gerade diesen Prozess, nimmt die Leser*innen in Verantwortung und tritt – soweit das über Buchseiten möglich ist – in Interaktion mit ihnen. Es geht darum, sich Geschichte gemeinsam anzueignen, über ihr Verständnis zu diskutieren und sich die Bedeutung und Verbindung zur Jetzt-Zeit in kollektiven Prozessen zu verdeutlichen und als gesellschaftliche, wirkungsvolle Praxis anzuerkennen und Anne Weber macht es möglich, dies auch noch auf ästhetisch wertvolle Art und Weise zu tun. Lasst es uns ihr nachtun!