Heute vor 37 Jahren – am 28. Spetember 1985 – wurde Günter Sare während Protesten gegen ein NPD-Treffen im Bürgerhaus Gallus von einem Wasserwerfer überfahren und erliegt wenige Minuten später seinen Verletzungen. In Gedenken an Günter dokumentieren wir an seinem Todestag hier die Geschehnisse. In unserem Archiv findet ihr noch mehr Inhalte.
Erstes Flugblatt zum Tode Günter Sares
Am Samstag, dem 28.9. fand eine Protestveranstaltung gegen das NPD-Treffen im Bürgerhaus Gallus statt. Etwa 1000 Menschen beteiligten sich an einem deutsch-ausländischen Freundschafts fest vor der Hufnagelschule in der Nahe des Bürgerhauses. Beim Eintreffen der Faschisten kam es zu einer Protestkundgebung Ecke Frankenallee/Hufnagelstr. Die Polizei geleitete die Teilnehmer der NPD-Veranstaltung ins Haus Gallus und begann gleichzeitig mit Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen die versammelten Demonstranten vorzugehen. Im Poli-zeifunk wurde durchgegeben, daß „kompromisslos vorgegangen“ werden sollte. Gegen 21 Uhr kam es dann zu dem Vorfall, der im Nachhinein durch die Polizei gern als „Unfall“ dargestellt wird:
Der 36jährige Günter Sare wird auf der Kreuzung von einem Wasserwerferstrahl zu Boden geworfen. Als er wieder auf die Beine kommt, fährt ein zweiter Wasserwerfer um die Ecke und hält kurz an. Obwohl die Besatzung den Demonstranten bei heller Beleuchtung gesehen hat, ja mit den Wasserkanonen gezielt auf ihn schießt, fährt der Wasserwerfer mit hoher Geschwindigkeit an und überrollt Günter Sare im Brustbereich. Zwei Sanitäter und ein Arzt, die dem Verletzten zu Hilfe eilen, werden von der Polizei behindert („Was, du Schwein willst Arzt sein“). Sie müssen Günter Sare vor einen Autoscheinwerfer bringen, um ihn versorgen zu können, da die Polizei die Stelle nicht ausleuchtet. Trotz dringender Bitte, sofort einen Notarztwagen zu holen, dauert es 10 Minuten, bis ein zu gering ausgerüsteter Krankenwagen kommt. Erst nach 20 Minuten trifft der Notarztwagen ein, in dem Günter Sare auf dem Transport stirbt.
Im Anschluß fand spontan ein Demonstrationszug zum Opernplatz statt. An der Mainzer Landstraße die folgende Szene: 200 Demonstranten werden von mehreren Hundertschaften der Polizei eskortiert. Mehrere Wasserwerfer des Typs, der Günter Sare tötete fahren über die ganze Breite der Straße hinter dem De-monstrationszug her. Aus der Polizeikette tönt es zu den Demonstranten: „Morgen seid ihr dran“. Die Polizei beginnt, einzelne Demonstranten und Gruppen festzunehmen, es kommt) zu Rangeleien zwischen Polizei und Demonstrationsteilnehmern. Als Reaktion auf den Tod Günters kommt es in der Nacht zu einem Brandanschlag bei Mercedes.
Am folgenden Tag findet ab 18 Uhr eine Kundgebung auf dem Paulsplatz und eine anschließende Demonstration zum Gallus statt. Bereits am Theaterplatz kommt es zu einem Polizeieinsatz, die ersten Scheiben gehen zu Bruch. Am Hauptbahnhof und am Platz der Republik treibt die Polizei den Demonstrationszug teilweise auseinander, kesselt Demonstrantengruppen ein und lässt nur einen Teil des Zuges bis zum Gallus weiterlaufen. Ein Teil des Demonstrationszuges mit etwa 300 Personen wird vor den Hauptbahnhof getrieben und dort von 7 Wasserwerfern und Polizeiketten umstellt. Die aufgeheizte Stimmung der Polizei beleuchtet die über Polizeilautsprecher abgegebene Äusserung: „Das nächste Mal sperren wir euch gleich ins Stadion“. Die Leute werden erst eine Stunde stehen gelassen und dann einzeln verhaftet. Die 255 Verhafteten werden ins Polizeipräsidium bzw. ins Polizeigewahrsam Klapperfeld gebracht. Die Festnahmen haben keinen demoralisierenden Effekt, die Festgenommenen widersetzen sich gemeinsam einer (unrechtmässigen) ED-Behandlung.
In den Zellen gibt es Randale. Es werden Parolen gerufen. Eine Reaktion ist ein Wasserwerfereinsatz mit Tränengas durch das offene Fenster der Frauenzelle. Während dieser Zeit kommt es in der Stadt zu regelrechten Treibjagdszenen. Gegen 23.30 Uhr löst die Polizei den vor dem Hauptbahnhof verbliebenen Rest der Demonstranten mit den Worten auf: „Meine Damen und Herren, wir hatten einen vergnügten Abend, der Rest kann jetzt gehen“. In anderen Städten der BRD kommt es am gleichen Abend zu Protestaktionen.
An der Kreuzung Frankenallee/Hufnagelstraße steht seit Sonntag ein Holzkreuz, an dem Anwohner und Freunde Blumen und Kränze niederlegen; es findet eine Mahnwache statt. Dort versammeln sich am Montagabend etwa 1.000 Menschen zu einem Trauerzug durch das Stadtviertel. Nach einer Schilderung der Vorfälle vom Samstag setzt sich der Zug in Bewegung, wird aber nach 200 m. durch eine Polizeikette aufgehalten. Die Polizeiführung untersagt jeden Trauerzug. Die Polizei marschiert an allen vier Seiten auf und lässt die Teilnehmer erst nach teilweise eingehender Leibesvisitation wieder in die Stadt. An mehreren Stellen der Stadt werden Personen und Gruppen, die sich auf dem Wog ins Gallus oder auf dem Rückweg befinden durch die Polizei angehalten. Es kommt zu Schlagstockeinsätzen und weiteren Festnahmen.
Für Dienstag wird zu einer Kundgebung auf dem Paulsplatz aufgerufen, an der rund 5.000 Menschen teilnehmen. OB Wallmann hat für diesen Tag ein generelles Demonstrationsverbot über die Stadt verhängt. Die Polizei verhindert entsprechend mit massiver Präsenz einen geschlossenen Abmarsch. Die Kundgebungsteilnehmer gehen in Gruppen vom Platz und formieren sich zwischen Hauptwache und Opernplatz zu einem
geschlossenen Demonstrationszug in Richtung Gallus. Mehrere Demonstrationszüge laufen dann ins Gallusviertel und setzen damit das Demonstrationsverbot faktisch ausser Kraft. Auf dem Weg kommt es mehrfach wieder zu Einkesselungen durch die Polizei, Schlagstockeinsätzen und Festnahmen. Ein Richter, der die Szenen vor dem Hauptbahnhof als Unbeteiligter erlebte, sagte am nächsten Tag in der Hessenschau, solche Szenen habe er zwei Tage zuvor noch nicht für möglich gehalten. Er erstattet Strafanzeige gegen die Polizei. Es stellt sich die Frage, welche Beachtung diese Aussage gefunden hätte, wenn sie von einem Demonstranten gemacht worden wäre. Die Polizei verprügelt zum Teil auch unbeteiligte Passanten. Es kommt überall in der Stadt zu spontanen Solidaritätsaktionen zwischen Demonstranten und Passanten.
Wallmann und die Polizei wollten durch ihr Demonstrationsverbot und das Heraufbeschwören einer „Stadt in Trümmern“ verhindern, daß wir die Wahrheit über den Tod Günter Sares nach aussen tragen. Dieses Konzept ist nicht aufgegangen. Tausende sind auf die Straße gegangen und haben sich nicht, wie verordnet, still verhalten.
Zu den offiziellen Ermittlungen und der Darstellung der Polizei
Seitens der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittler werden öffentlichkeitswirksam hektische Aktivitäten in Szene gesetzt. Das wichtigste Beweisstück der l3köpfigen LKA-Ermittlungsgruppe ist wohl ein Stein, der angeblich in Günters Nähe gefunden wurde. Gleichzeitig haben die staatlichen Ermittler eine Obduktion durch unabhängige Ärzte behindert. Es rnuss damit gerechnet werden, daß eine Lüge vom „selbstverschuldeten Tod“ Günters oder durch Verantwortung anderer Demonstranten gestrickt werden soll. Um Licht ins Dunkel der Ermittlungen zu bringen, bestehen wir auf der Einsetzung eines öffentlich tagenden Untersuchungsausschusses, der Zeugen vernimmt, Akten und Beweismaterial sichtet und bewertet. Wir haben kein Vertrauen in Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft. Wir haben auch kein Vertrauen in einen sogenannten unabhängigen Beauftragten des hessischen Innenministers. Wie ein Blick über die Grenze nach Frankreich lehrt, diente ein solch „unabhängiger Ermittler“ von Regierungs Gnaden dem Vertuschen der Greenpeace-Affaire. Deshalb bestehen wir auf einem öffentlichen Untersu-chungsausschuss. Die Ermittlung muß aber auch aufdecken, warum immer und immer wieder ausgerechnet antifaschistische Demonstrationen die Polizei und ihre politische Führung zu besonders brutalem und lebensgefährlichem Vorgehen veranlassen. Der Tod Günter Sa-res schließt sich an die brutalen Einsätze der NPD-Deutschlandtreffen 1977 und 1978 an, an den Versuch, die Rock gegen Rechts Veranstaltung 1979 in Frankfurt und 1980 in Nordhessen zu unterbinden und nicht zuletzt auch an das Vorgehen der Polizei an der Katha-rinenkirche zum Schutz der neonazistischen FAP in diesem Frühjahr.
Die Strategie
Am 28.9.85 wurde Günter Sare bei der antifaschistischen Kundgebung von einem Mercedes-Polizeiwasserwerfer getötet. Wer jetzt glaubte, daß in einer Art Schrecksekunde die Maschinerie aus Staat und Polizei angehalten würde, wurde getäuscht: eine Stunde nach Gün-ters Tod wurde eine erste, spontane Demonstration durch einen Polizeikordon mit Wasserwerferbegleitung zum Opern platz „geleitet“. OB Wallmann war fix bei der Hand mit einem Demonstrationsverbot, weil er wusste, daß viele die Wahrheit herausschreien wollten. Bundeskanzler Kohl hatte nichts besseres zu tun, als über den „Haß in den Augen der Demonstranten“ zu schwadronieren. Und der Polizeiapparat bereitete sich durch massive Zusammenziehung von Polizeikräften auf die kommenden Tage vor. Die Presse, am Anfang noch etwas geschockt, war schnell wieder auf Linie: „Feuer und Flammen über dieser Stadt“, so wird Frankfurt auf den Protest der kommenden Tage per Schlagzeile vorbereitet. Alles arbeitet wieder Hand in Hand, kein noch so kurzes Stocken in der Maschinerie. Das ganze passt sich ein in eine Verschärfung der Repression im Lauf der letzten Jahre: es wird gerüstet gegen gesellschaftlichen Protest. Denn die Widersprüche verschärfen sich: Massenarbeitslosigkeit, soziale und materielle Verelendung, Hochrüstung, verschärfte Unterdrückung lassen die Herren zurecht befürchten, daß der Widerstand wächst. Sie versuchen sich dagegen zu schützen. Demokratische Rechte werden einges-schränkt, zuletzt das Demonstrationsrecht. Es wird die Stimmung angeheizt gegen demokratischen Protest und Widerstand, Minderheiten und ausländische Mitbürger. Sündenböcke werden konstruiert um abzulenken. Das Ganze geht einher mit massiver Aufrüstung des Repressionsapparates und dem Versuch, jeden V/iderstand zu zerschlagen. Ex-Verfassungsschutzchef von Hamburg Horchern: „Aufdecken, Erkennen, Festsetzen oder Töten“, das soll die Devise sein.
Wir werden uns nicht in diese Logik einpassen. Es gibt Widerstand in diesem Land. Das haben gerade die vergangenen Tage in Frankfurt gezeigt. Tausende haben nicht den Mund gehalten, sondern ihre Wut und Trauer auf der Straße zum Ausdruck gebracht. Das Demonstrationsverbot Wallmanns ist faktisch ausser Kraft gesetzt.
Zum Kommandanten des Wasserwerfers Reichert, der Brutalisierung der Polizei und dem Verhalten von Polizisten nach dem Tod Günter Sares
Der Kommandant des Wasserwerfers, der Günter Sare gelötet hat, heißt Reichert. Er ist Polizeiausbilder der Bereitschafts-polizei in Hanau und trainiert dort Wasserwerferbesatzungon. Reichert ist bereits mehrfach aufgefallen. In einem Startbahnprozeß musste er eingestehen, einen Demonstranten brutal zusamrnengeschlagen zu haben. An der Startbahn West fiel er mehrfach durch äusserste Aggression auf, sei es, daß er im Winter ältere Leute mit seinem Wasserwerfer vom Fahrrad „schoß“, sei es, wenn er sich mit Fäusten zu einem bestimmten Demonstranten durchprügelte, den er unbedingt selbst verhaften wollte. Gegen ihn lief u.a. ein Verfahren, da er einen Bekannten mit seiner Dienstwaffe begleitete, als dieser gefälschte Dollarscheine über die Grenze bringen wollte.
Verantwortlich ist aber nicht allein die Person Reichert, hinter ihm steht ein Apparat, dessen Ziel es ist, Widerstand gegen die politischen Verhältnisse in diesem Land im Keim zu ersticken. Sei-ne Reaktion ist differenziert: je nach Gefährlichkeit des Widerstandes, der sich artikuliert, werden differenzierte Formen der Bekämpfung eingesetzt.
Die Gangart wird schärfer. In den Polizeikasernen wird Aggression gegen politischen Widerstand nicht unterbunden, sondern gefördert. Es ist zu bemerken, daß Polizeibeamte immer öfter bewusst als „menschliches Material“ gedrillt werden, um die schärfere Gangart des Polizeiapparates auf der Straße umzusetzen. Treibjagden von Polizeigruppen unter „hoi, hoi, hoi“-Rufen sind heute oft anzutreffen. Daß der Mutter von Günter Sare der Zugang zum Polizeipräsidium mit den Worten verweigert wurde, „Wir machen doch heute kein Familientreffen“ macht deutlich, wie weit sich das „Anziehen der Daumenschrauben“ gegen gesellschaftlichen Portest bereits quer durch den Apparat ausgebreitet hat. Diese schärfere Gangart ist kein momentanes Ereignis, sondern hat Methode, um gegen eine Verstärkung des politischen Protestes und Widerstandes gerüstet zu sein.