Zuerst erschienen in der Frankfurter Rundschau.
Nach einem Schuss im Juni ermittelt in Hanau die Staatsanwaltschaft. Das Opfer ist ein Betroffener des Anschlags vom 19. Februar 2020. Die Ermittler sehen derzeit kein rassistisches Motiv. Doch der Verdächtige soll oft auffällig geworden sein, auch mit rechten Äußerungen.
Der Hanauer Can Okan* kennt Rassismus schon sehr lange. Spätestens, seitdem am 19. Februar 2020 ein rechtsextremer Täter mehrere seiner Freunde in dem Kiosk am Kurt-Schumacher-Platz erschoss, dessen Betreiber Okan war. Der Anschlag hatte ihn stark traumatisiert, einige Monate später machte er seinen Laden im Hanauer Stadtteil Kesselstadt zu, litt unter den Attentaten. Nun hat ihn erneut ein Angriff getroffen. Diesmal in seinem eigenen Haus, auf ihn selbst.
Am 20. Juni, am frühen Abend war es, als der 24-Jährige mit seiner Cousine und seiner Freundin aus seinem Haus im Hanauer Stadtteil Wolfgang kam. Direkt im Vorgarten sollen die beiden Frauen von Okans 59-jährigem Nachbarn Klaus Weiland*, den Okan einige Male zuvor im Haus gesehen hatte, angesprochen worden sein. Okan habe darauf mit der Frage reagiert, warum Weiland die jungen Frauen nicht in Ruhe lasse.
Daraufhin soll die Situation zwischen den beiden Männern eskaliert sein. Der 59-jährige soll schnell seine Waffe gezückt, Okan bis zum Aufzug bedroht haben und ihm dort zunächst die Waffe an den Kopf gehalten, ihm dann in den Oberschenkel geschossen und im Fahrstuhl liegen gelassen haben.
„Mein Sohn lag lange in seinem eigenen Blut und hat mehrere Liter Blut verloren. Er hat den Krankenwagen und die Polizei selbst angerufen“, erzählt sein Vater Murat Okan*.
Nach dem Überfall auf seinen Sohn soll er von mehreren Bekannten gehört haben, dass Weiland in Hanau junge Männer mit Migrationshintergrund bedroht und ihnen seine Waffen gezeigt habe. Auch im Fall seines Sohnes glaube er, dass Türken- und Muslimfeindlichkeit das Hauptmotiv gewesen sei, denn die Männer hätten nie wirklich miteinander geredet, außer um sich im Haus zu grüßen.
Erinnerungen an Anschlag von 2020 kommen hoch
Nun, nach fünf Wochen Krankenhausaufenthalt, habe sein Sohn weiterhin Angst und könne nicht in seine Wohnung zurückgehen. Ihm gehe es überhaupt nicht gut. Das Warten auf die Polizei und den Krankenwagen habe seinen Sohn zusätzlich traumatisiert, er könne nur noch bei offener Tür schlafen. Jetzt kämen auch die Erinnerungen an den rassistischen Anschlag von 2020 bei ihm und seinem Sohn wieder hoch. „Daran wollte ich mich nicht wieder erinnern. Seitdem habe ich mich selbst verloren“, erzählt der Vater, der der Eigentümer des früheren Kiosks am Kurt-Schuhmacher-Platz – dem zweiten Tatort des Anschlags – war.
Der Fall
Im Juni 2023 wurde ein 24-Jähriger Hanauer in seinem Wohnhaus in Hanau-Wolfgang im Aufzug angeschossen und schwer verletzt. Der Betroffene war zuvor Betreiber eines Kiosks am Kurt-Schumacher-Platz, wo ein Rassist am 19. Februar 2020 neun Menschen ermordete. Der im Juni angeschossene junge Mann befand sich während des Terroranschlags in Hanau vor dreieinhalb Jahren nicht in seinem Geschäft, allerdings starben damals mehrere seiner Freunde und Bekannten.
Die Frankfurter Rundschau hat Hintergründe zur aktuellen Tat recherchiert: Vor dem Schuss war der mutmaßliche Täter wiederholt durch aggressives Verhalten aufgefallen, es gab einen entsprechenden Hinweis an die Polizei. Wenige Tage vor dem Anschlag von Hanau im Jahr 2020 soll sich der Täter in der „Midnight Bar“, dem ersten Tatort der Attentate, islamfeindlich geäußert und kurz darauf zwei junge Leute bedroht und in seiner Wohnung festgehalten haben. Es wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Waffengesetz eingeleitet, und die Wohnung des Verdächtigen wurde durchsucht, doch letzten Endes wurde er nicht gestoppt.
In sozialen Netzwerken fiel der Mann durch rechte Äußerungen auf, und er posierte mit Waffen, hatte aber offenbar nicht die notwendigen waffenrechtlichen Erlaubnisse.
Die Tat hat Betroffene des rassistischen Anschlags von Hanau retraumatisiert. Am 19. Februar 2020 hatte ein Rassist Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov ermordet. Dann tötete der Täter seine Mutter und sich selbst.
Das Opfer der Attacke im Juni dieses Jahres betrieb den Kiosk am zweiten Tatort von 2020.
Weitere Texte zum Anschlag stehen online im Dossier – und das Multimedia- Special „Die Wunden von Hanau – Der rassistische Terroranschlag vom 19. Februar 2020“ finden Sie unter frstory.de/hanau (yeç/gha).
Vor der Schussabgabe im Juni dieses Jahres soll es, wie mehrere Zeugen der FR übereinstimmend berichten, eine Reihe von Warnsignalen gegeben haben, die zum Teil detailliert der Polizei gemeldet wurden. Am 11. Februar 2020 ist es laut einem Hinweisgeber zu folgendem Vorfall gekommen: Weiland war in der „Midnight Bar“ zu Gast, dem ersten Tatort der Attentate 2020, an dem acht Tage später Betreiber Sedat Gürbüz erschossen wurde. Weiland gesellte sich zu ein paar jungen Migranten und äußerte sich demnach irgendwann – wie er es bei früheren Besuchen der Bar bereits getan habe – islamfeindlich, erinnert sich ein Informant.
An jenem Abend fragte er sinngemäß, wo Allah gewesen sei, als kleine Kinder vergewaltigt worden seien. Die Ausdrucksweise soll vulgär gewesen sein und den Propheten Mohammed beleidigt haben. Nach einem lauteren Wortwechsel habe sich das Gespräch beruhigt. Später habe Weiland zwei junge Männer dazu gebracht, ihn nach Hause zu fahren. Dort habe er ihnen Waffen, darunter eine Tomahawk-Axt und eine Machete, gezeigt und Nahkampftechniken, mit denen man töten könne, an ihnen vorgeführt.
Er habe sie regelrecht festgehalten und hierzu beispielsweise gesagt, sie dürften erst gehen, wenn er es sage. Weiland habe sie aufgefordert, ihm in die Augen zu schauen und gefragt, ob sie Angst vor dem Tod hätten. Er habe mit seiner Mitgliedschaft bei den Hells Angels geprahlt und gesagt, sie wollten doch nicht, dass er bei ihnen oder ihren Eltern vorbeischaue und klingele.
„Wir hatten Angst. Der psychische Druck war groß“, sagt einer der beiden jungen Hanauer. Am Ende, nach mehreren Stunden, nachdem sie angemerkt hätten, bald zur Arbeit gehen zu müssen, habe er sie gehen lassen.
Ein Informant suchte nach dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar 2020, der sich etwa eine Woche später ereignete, die Hanauer Polizei auf und berichtete umfassend von den Geschehnissen in Weilands Wohnung. Doch der zuständige Beamte habe sich kaum dafür interessiert, er habe ihn abwimmeln wollen und nur ein paar Stichpunkte notiert. Am Ende habe er gesagt, er melde sich, falls es noch Fragen gebe. Eine Vernehmung fand zunächst nicht statt. Der Zeuge wurde erneut aktiv und kontaktierte am 25. Februar 2020 das Bundeskriminalamt (BKA), auch weil er die begründete Vermutung hatte, es könnte Verbindungen zum Attentäter von Hanau geben. Daraufhin wurde er zweimal befragt, einmal vom BKA, und bat dieses inständig, etwas zu unternehmen: Maßnahmen gegen den Mann seien dringend notwendig, er könnte irgendwann „durchdrehen“. So hat es das BKA aufgenommen.
Laut internen Unterlagen, die die FR ausgewertet hat, sah das BKA in dem Hinweis keinen konkreten Bezug zum Tatgeschehen am 19. Februar 2020 und somit keine Relevanz für die eigenen Ermittlungen dazu. Ein BKA-Beamter habe die Informationen am 26. Februar der hessischen Landespolizei geschickt und in deren Verantwortung übergeben.
Parallelen zum Anschlag erkennt der Vater des Betroffenen, Murat Okan. „Es fehlte an Sensibilität, auch im Umgang mit uns“, sagt der 49-Jährige. Außerdem sei der Krankenwagen erst nach 25 Minuten in Okans Haus eingetroffen, als die Polizisten schon lange mit Can Okan im Aufzug warteten. Auch nach dem Anschlag von 2020 wurde der unsensible Umgang der Behörden mit den Überlebenden und ihren Angehörigen häufig kritisiert.
Keine Waffenerlaubnis, Sympathie für Qanon
Auf Anfrage der Frankfurter Rundschau teilt die Staatsanwaltschaft Hanau mit, sie ermittle in dem Fall wegen des Verdachts des versuchten Totschlags, der gefährlichen Körperverletzung sowie des Verstoßes gegen das Waffengesetz. Nach Angaben der Behörde soll der beschuldigte Klaus Weiland nicht über die notwendigen waffenrechtlichen Erlaubnisse verfügt haben. Zu konkreten Ergebnissen, etwa zu Ablauf oder Hintergrund der Tat, könne „aus ermittlungstaktischen Gründen“ keine Auskunft gegeben werden. Nach derzeitigem Stand hätten sich „keine Hinweise auf ein rassistisches Tatmotiv“ ergeben, betont die Staatsanwaltschaft.
Der Verdächtige, der flüchtete und sich kurz nach der Tat widerstandslos festnehmen ließ, sitzt nach wie vor in Untersuchungshaft. Zur Tatzeit war er nicht vorbestraft. Nach FR-Informationen war der 59-Jährige zuvor jedoch unter anderem wegen Bedrohung, Körperverletzung, Diebstahl und Betrug polizeilich in Erscheinung getreten.
Darauf, dass Weiland teils rassistische Ansichten vertrat, deuten seine Online-Aktivitäten hin. Im Netz hetzt er in einem Beitrag gegen „männliche Asylbewerber“, posiert stolz mit Waffen, obwohl er keine waffenrechtlichen Erlaubnisse gehabt haben soll. Er interessiert sich für US-Politik und outet sich als Unterstützer des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Es ärgert ihn zum Beispiel, dass der ehemalige US-Präsident Bill Clinton und Hillary Clinton Fotos mit „schwarzen Kindern und Frauen“ posten. Er glaube nicht, dass die Bilder echt seien.
Etwa eine Woche vor dem Schuss auf den 24-Jährigen postet er ein Foto mit einer Kalaschnikow und einer gefälschten Tonaufnahme von Donald Trump, der sinngemäß sagt: „Ein harmloser Mensch ist kein guter Mensch. Ein guter Mensch ist ein sehr gefährlicher Mensch, der das freiwillig unter Kontrolle hat.“
Ein paar Monate zuvor sind mehrere Fotos mit verschiedenen Waffen zu sehen: „Gott wird unsere Feinde richten, aber wir organisieren das Treffen“, heißt es auf einem Bild.
Weiland scheint sich für „Qanon Bewegung“ zu interessieren – eine Verschwörungstheorie mit rechtsextremem Hintergrund, die 2017 während der Präsidentschaft von Donald Trump aufkam. Laut Qanon kämpft Trump gegen den „Tiefen Staat“, ein „böses internationales pädophiles Netzwerk“.
In der Bewegung sind viele Unterstützer bewaffnet und in Bürgermilizen aktiv, sie gehören unter anderem zu der Gruppe, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol in Washington stürmte.
Weiland versucht oft, den demokratischen US-Politiker Adam Schiff online anzugreifen – eine Hassfigur für die Qanon-Sympathisanten, weil er Ermittlungen zu Trumps Amtsenthebungsverfahren geleitet hat. Im Jahr 2019 hatte ein Anhänger der Bewegung versucht, Schiff zu verhaften.
„Staatsschutzrelevanz“ sah die Polizei nicht
„Der Teufel flüstert, ein Sturm kommt. Der Krieger flüstert, ich bin der Sturm“, postet Weiland sinngemäß. Ende 2022 zeigt er auf einem Social-Media-Account auf mehreren Bildern Waffen. „Der Sturm“ hat seinen Namen von einer Bemerkung des damaligen US-Präsidenten Trump im Oktober 2018 über die „Ruhe vor dem Sturm“. Qanon-Anhänger:innen zufolge sei dies eine Art Gerichtstag, an dem die Täter bestraft werden und der den „tiefen Staat“ für immer beenden würde. Die Bewegung hat in Deutschland während der Corona-Pandemie an Zulauf gewonnen.
Vor dem Schuss in Hanau-Wolfgang soll sich der Verdächtige besonders aggressiv verhalten haben. Nach einem Disput in einem Lokal nahe der „Midnight Bar“ habe er mit einer Machete gedroht.
Auf FR-Anfrage weist das Polizeipräsidium Südosthessen Kritik zurück und schreibt, nach dem Vorfall am 11. Februar 2020 sei ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Waffengesetz eingeleitet worden. Bei einer Durchsuchung von Weilands Wohnung seien keine Waffen gefunden worden. Nach Abschluss der Ermittlungen sei die Akte der Staatsanwaltschaft zur weiteren Entscheidung vorgelegt worden.
Des Weiteren hätten mehrere Polizeibehörden Weiland „umfassend überprüft“ und die Gefährdungslage eingeschätzt. Die Staatsschutzabteilung des Polizeipräsidiums sei zu der Einschätzung gekommen, dass „keine staatschutzrelevanten Bezüge“ vorlägen.
Es soll weitere Hinweise gegeben haben. Doch „zum Schutz von Persönlichkeitsrechten“ könne die Polizei „keine weitergehenden Informationen veröffentlichen“.
Der Generalbundesanwalt (GBA) entgegnet auf eine Bitte um Stellungnahme – etwa zur Frage, ob und inwiefern extremistische Tendenzen bei Weiland und mögliche Verbindungen zum Anschlag oder dem Attentäter geprüft worden seien – lediglich: Nach Ausschöpfung aller relevanten Ermittlungsansätze seien „keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Beteiligung weiterer Personen als Mittäter, Anstifter, Gehilfen oder Mitwisser ergeben haben“.
Die Initiative 19. Februar Hanau, in der sich Betroffene des Anschlags und ihre Unterstützer:innen zusammengeschlossen haben, übt scharfe Kritik: „Einmal mehr zeigt sich im vorliegenden Fall, dass die Hanauer Polizei und zuständige Sicherheitsbehörden nach dem Anschlag am 19. Februar 2020 Hinweisen von Betroffenen nicht in der gebotenen Weise nachgehen.“ Es wurde nicht richtig geprüft, ob und inwieweit rechtsradikale Verbindungen vorliegen.
Der Rechtsanwalt von Weiland ließ eine Anfrage der Frankfurter Rundschau bislang unbeantwortet.
*Namen mit Stern wurden von der Redaktion geändert.