Gefunden auf Indymedia.
Der Text soll eine Berichterstattung zur derzeitgen Situation in Gräfenhausen sein und ein Appell an die radikale Linke, sich an diesem bedeutenden Streik zu beteiligen.
Seit heute, Dienstag, den 19. September 2023, befinden sich circa 30 von 80 Lkw-Fahrern, die nun bereits seit mehr als zwei Monaten in Gräfenhausen bei Darmstadt aufgrund von fehlenden Lohnauszahlungen streiken, im Hungerstreik. Dabei ist nicht nur die Entwicklung der Ereignisse dramatisch, sondern auch die wenige Aufmerksamkeit, die das Thema innerhalb der radikalen Linken erhält.
Insgesamt harren die Fahrer schon seit mehr als sieben Wochen auf der Raststätte Gräfenhausen aus. 60 sind auf der Raststätte Gräfenhausen West und 20 auf der Raststätte Ost. Die meisten kommen aus Usbekistan und Georgien, aber auch aus Kasachstan, Tadschikistan, der Ukraine und der Türkei. Schon jetzt ist der Streik historisch, denn es handelt sich um den längsten bekannten Streik von Lkw-Fahrern in Europa. Es ist jedoch nicht das erste mal, dass die Fahrer in den wilden Streik treten. Bereits im April haben die Fahrer der blauen Lkws, die der polnischen Unternehmensgruppe Mazur gehören, gestreikt. Beim ersten Streik ist Mazur mit einer paramilitärischen Einheit angerückt, um die Streikenden zu bedrohen und einzuschüchtern. Bis jetzt schuldet Mazur den Fahrer etwa eine halbe Million Euro Lohn.
Seit dem 31. August haben die Fahrer einen kleinen Teil des Geldes erhalten, aber nicht von Mazur selbst, sondern von anderen Speditionsunternehmen aus der Lieferkette, die nicht länger auf ihre Waren warten wollen. Die Fahrer gaben dem Unternehmen die Ladung eines Lkw-Anhängers und erhielten dafür im Gegenzug 20.000 Euro in bar. Die 20.000 Euro hat der Fahrer des Lkws aber nicht an sich genommen, sondern hat es mit allen 80 Fahrern geteilt. Die Fahrer haben im August außerdem veröffentlicht, um welche Firmen es sich handelt, deren Waren sie geladen haben oder anderweitig an der Lieferkette beteiligt sind. Unter anderem sind das: Porsche, Audi, VW, DHL, der Möbelhändler Poco, Red Bull, die Baumärkte Obi und Bauhaus und IKEA.
Wir besuchen die Fahrer seit einiger Zeit. Wir bringen gerettetes Gemüse und Obst vorbei, aber auch Lebensmittel wie Eier und Butter, die wir von gespendetem Geld kaufen. Wenn wir sie besuchen, dann quatschen wir miteinander. Ihnen ist wichtig, dass wir vorher bescheid sagen, wenn wir kommen, denn sie möchten uns zum Essen einladen. Sie sagen, sie mögen es nicht immer nur Sachen zu bekommen, aber selbst nichts zurückzugeben. An einem Abend haben wir gemeinsam auf der Raststätte in einem Lkw gekocht und eine Musikbox mitgebracht. Obwohl das Wetter richtig schlecht war, und es in Strömen geregnet hat, haben wir zusammen getanzt und die Stimmung war top. Das ist eher eine Ausnahme von der sonst stressigen und langweiligen Zeit, die die Fahrer auf der Raststätte verbringen.
Einer der streikenden Fahrer heißt Aziz*, er ist 33 Jahre alt und kommt aus Usbekistan. Vor einem Jahr ist er in Polen angekommen, um seitdem für Mazur als LKW-Fahrer zu arbeiten. Es ist auch ein Jahr her, seitdem er das letzte mal zuhause in Usbekistan war und seine Familie gesehen hat. Er sagt, er ist in den Hungerstreik getreten, weil er hofft, dass er so endlich gehört wird. Die alleinige Forderung,die die Streikenden verfolgen ist, dass sie ihren Lohn ausgezahlt bekommen wollen. Nicht bessere Arbeitsbedingungen oder gar Lohnerhöherungen. Als ich Aziz frage, wie lange sie im Hungerstreik bleiben werden, sagt er mir, dass nur Allah das weiß. Er erzählt mir, dass er kraftlos und müde ist, aber sein Wille stark ist.
Wir treffen bei unseren Besuchen in Gräfenhausen auf weitere Menschen, die die Streikenden unterstützen. Sie sind Christen aus einer Freien Gemeinde aus Darmstadt, Sozialdemokraten von Ver.di und co., die Hochschulgewerkschaft unter_bau ist am Start, und Aurora hat zu Beginn des Streiks auch berichtet und unterstützt. Die Berichterstattung insgesamt nimmt jedoch mit voranschreitender Zeit leider immer mehr ab, und so geht auch langsam das Interesse verloren. Weitere Menschen aus der radikalen Linken sucht man in Gräfenhausen vergebens. Das Thema wird hauptsächlich von großen Gewerkschaften wie ver.di behandelt. Diese setzen auf Sozialpartnerschaft und reformistische Ansätze. Ihre Prämisse lautet Burgfrieden statt Klassenkampf. Noch sinnbildlicher wird es, wenn man hört, dass Olaf Scholz das Begrüßungswort auf dem ver.di Bundeskongress, der aktuell in Berlin stattfindet, gesprochen hat. Am Freitag hat sich auch der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zum Streik geäußert. Er schreibt auf Twitter:„LKW-Fahrer halten unser Land und unsere Wirtschaft am Laufen. Sie um ihren hart verdienten Lohn zu betrügen, dulden wir nicht. Die verzweifelten LKW-Fahrer in Gräfenhausen brauchen unsere Unterstützung.“
Weil der Diskurs um Gräfenhausen nun überwiegend von sozialdemokratischen Kräften geführt wird, findet keine Auseinandersetzung darüber statt, wie es überhaupt erst zu solch prekären Arbeitsbedingungen kommt.
Es sind jedoch genau diese politischen Vertreter*innen des Kapitals wie Olaf Scholz und Heil, die den Niedriglohnsektor überhaupt erst aufgebaut haben. Es sind die Gesetze des Arbeitsmarkts, die in den letzten 25 Jahren von SPD, Grünen, CDU und FDP geschaffen wurden, die die prekären Arbeitsverhältnisse und somit die Überausbeutung der migantischen Lohnabhängigen verantworten. Ihre Arbeitsbedingungen sind keine Ausnahme, sondern Normalzustand. Die Fahrer leiden unter Zeitdruck, Stress, physischen sowie psychischen Belastungen und Dumpinglöhnen. Sie sind keine Angestellten des Unternehmens, sondern scheinselbstständig. Auf diese Weise umgeht die polnische Spedition den Mindestlohn, denn für Selbstständige gibt es keinen Mindestlohn. Im Grunde ist das moderne Sklaverei auf deutschen Autobahnen. Aber das ist eigentlich auch keine neue Info.
Der Apell lautet also: Lasst uns das Feld nicht den Sozialdemokrat*innen überlassen,die das derzeitige kapitalistische System und eben jenen Hungerstreik in Gräfenhausen mittragen. Zeigt euch solidarisch! Beiteiligt euch an diesem Kampf. Besucht die Fahrer und unterstützt sie beim Streik. Besonders jetzt ist die Situation durch den Hungerstreik gefährlich für die Fahrer und der Ausgang unklar.
Deswegen: Solidarität in Form von Besuchen, Support, Texten, etc. ist ausdrücklich erwünscht. Die Namen der Unternehmen, die ebenso Verantwortung für diese menschenunwürdige Situation tragen, sind bekannt.
*Name geändert