Zuerst erschienen in der FR.
Vor 23 Jahren ereignet sich in Neu-Isenburg ein Doppelmord an einem türkischen Vater und seiner Tochter. Es scheint Parallelen zu den NSU-Ermittlungen zu geben.
Neu-Isenburg – Der 8. Oktober 2000 veränderte das ganze Leben des heute 47 Jahre alten Kahraman Özer. An diesem Tag sitzt der damals 24-Jährige gemeinsam mit seiner Familie zu Hause im hessischen Dietzenbach, bis sein Vater, Seydi Vakkar sagt, er wolle seinen Onkel nach Hause bringen. Gemeinsam mit seiner Tochter Aysel und seinem Onkel steigt Vakkar ins Auto und fährt abends los. Es war das letzte Mal, dass Özer seinen Vater und seine Schwester sah.
Die Polizei findet später die Leichen im Auto an einer abgelegenen Bushaltestelle auf der Bundesstraße 459 bei Neu-Isenburg. Der damals 47-jährige Vater und seine 22-jährige Schwester wurden erschossen, den Onkel hatten sie zuvor noch zuhause abgesetzt. Ein Doppelmord, der eine Familie zerstörte.
Polizei findet Leichen im Auto an abgelegener Bushaltestelle
Kahraman ist heute so alt wie sein Vater zum Zeitpunkt des Mordes. Als er uns seine Geschichte erzählt, muss er immer wieder stoppen. Seine Augen füllen sich wiederholt mit Tränen, er zittert häufig und hat Schwierigkeiten zu schlucken. Er erzählt – und hat doch zunächst große Schwierigkeiten dabei. Denn diesem 8. Oktober 2000 fing für Kahraman eine Odyssee an, die auch 23 Jahre nach dem Doppelmord nicht aufgehört hat.
„Sie haben uns alle in dieser Nacht aufs Polizeirevier mitgenommen“, sagt der Sohn des Mordopfers. „Ich war der Hauptbeschuldigte“, berichtet der sichtlich traurige und auch wütende Kahraman Özer. Özer erzählt, die Beamten hätten ihn des „Ehrenmordes“ beschuldigt. Sein Vater hätte ein „Verhältnis“ mit seiner Schwester und er als Sohn habe die „Schande bereinigt“, indem er beide erschossen habe. Bei diesen Worten kommen ihm erneut die Tränen. Er muss etwas trinken, bevor er weiter redet. „Aber warum hätte ich dann auch meine Schwester töten sollen? Meine Schwester wäre doch dann vollkommen unschuldig gewesen“, sagt der Mann.
Schon kurze Zeit später findet die Polizei die Tatwaffe. Darauf werden vier DNA-Spuren entdeckt. Ein Abgleich zeigt, dass es keine Übereinstimmung mit der DNA Kahramans gibt. Auch findet sich keine Übereinstimmung mit der DNA von über 40 Personen aus dem familiären Umfeld der Mordopfer. Dennoch ermitteln die Polizisten auch 23 Jahre danach im familiären Umfeld. Beschuldigt wird neben Kahraman Özer auch der Onkel des Mordopfers, der heute 91 Jahre alt ist und in der Türkei lebt.
Die Ermittlungen zu dem Doppelmord weisen viele Parallelen zum Behördenhandeln in der NSU-Mordserie auf. Auch dort hatten die Ermittler anfangs innerhalb der Familien ermittelt. Jahrelang wurde ein rassistisches Tatmotiv ausgeschlossen. Das hatte für die Familien verheerende Folgen – sie sind bis heute traumatisiert, weil die Ermittler sie grundlos für Täter hielten. Auch Kahraman erzählt, dass er in den Jahren krank geworden ist. „Ich muss immer wieder in medizinische und psychologische Behandlung“, sagt der heute gebrochene Mann.
Experten zeigen sich angesichts der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Darmstadt (Zweigstelle Offenbach) enttäuscht und sehen Parallelen zu den anfänglichen NSU-Ermittlungen. „Es ist für mich unbegreiflich, dass trotz allen Wissens, das wir unter anderem aus dem NSU-Komplex haben, Ermittlungsbehörden Rassismus als Tatmotiv scheinbar ausschließen und das nochmal mehr, wenn ihr Ermittlungsansatz 23 Jahre lang keinerlei Erkenntnisse zu möglichen Tätern bringt“. Das sagt die Thüringer Abgeordnete Katharina König-Preuss (Die Linke) im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIA.
König-Preuss gehörte dem NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags an. „Warum werden die Ermittlungen nicht in eine neue Richtung aufgerollt? Das irritiert mich total“, erzählt die Politikerin. „Rassismus tötet, das sollte spätestens nach dem NSU-Komplex ein längst auch in Sicherheitsbehörden verankertes Wissen sein. Es ist beschämend, dass erneut Angehörige über Jahre hinweg solchen Verdächtigungen ausgesetzt sind“, sagt die Politikerin.
Polizei „verliert“ Tatwaffe
Mit weiteren Recherchen tauchen weitere Ungereimtheiten auf. Der Beschuldigte erzählt FR.de, dass die Ermittler die Tatwaffe „verloren“ hätten. Seine Anwältin Seda Basay-Yildiz bestätigt das. Ob die Waffen zuletzt in der Asservatenkammer in Frankfurt oder Offenbach aufbewahrt worden waren, stand nicht fest. Im März 2021 wurde bekannt, dass in der Asservatenkammer in Frankfurt Waffen im großen Stil unterschlagen wurden. Ein 41-jähriger ehemaliger Polizist wurde damals beschuldigt, die Waffen entnommen und dann weiterverkauft zu haben.
FR.de hat die Staastsanwaltschaft Darmstadt (Zweigstelle Offenbach) mit Fragen zu den Hintergründen des Doppelmordes konfrontiert. Eine Antwort gab die Behörde zunächst nicht. (Erkan Pehlivan)