Zuerst erschienen im AIB.
Der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe stellt uns vor das Problem, im Zuge noch immer laufender Ermittlungen und Gerichtsverfahren eine Art Zwischenstand zum „Antifa Ost-Verfahren“ veröffentlichen zu wollen. Ein Ende der Ermittlungen und Verfahren ist jedoch nicht abzusehen und Diskussionen und Analysen sind nach mehreren Jahren „Antifa Ost-Verfahren“ dringend notwendig. Um den „Antifa Ost-Komplex“ kritisch-solidarisch zu bewerten, gibt es unter den Vorzeichen massiver Repression leider nie einen guten Zeitpunkt. Eine komplizierte Situation, in der sich die autonome Bewegung aber bereits mehrfach befand.
Ältere Leser_innen werden an Repressionsschläge wie „Startbahn West“1 , „Kaindl-Verfahren“2 und „K.O.M.I.T.E.E.“ zurückdenken. Zur Problemlage öffentlicher Diskussionen in Zeiten der Repression schrieben „Betroffene“ der Ermittlungen gegen die autonome Gruppe K.O.M.I.T.E.E.3 in der Broschüre „Als das K.O.M.I.T.E.E. ein Osterei legte“ im Februar 1999: „Es darf dabei auch nicht vergessen werden, dass es ein erheblicher Unterschied ist, ob Leute im Knast sitzen oder auf der Flucht sind. Die Menschen, die in vergleichbaren Situationen, wie z.B. im Fall Kaindl, gearbeitet haben, werden sicher dieselbe Erfahrung gemacht haben: Die Repressionsdrohung wird unkalkulierbarer, und das Beobachtungs- und Verfolgungsinteresse der Bullen gegen das vermutete Umfeld der Untergetauchten ist groß. Es gibt plötzlich sehr viele Eventualitäten, und Ungenauigkeiten im bisherigen Zusammenleben rächen sich. Bei allem was veröffentlicht wird, und sei es eine banale politische Stellungnahme oder eine Chronologie, muss noch einmal doppelt so genau darauf geachtet werden, was es für Folgen hat oder haben könnte. Jede Veröffentlichung könnte die Gesamtsituation stärker festlegen und die Entscheidungsmöglichkeiten für die Verfolgten einengen“. Doch hier wurde rückblickend reflektiert: „Letztlich haben wir durch unsere Trägheit im öffentlichen Verhalten dazu beigetragen, dass eine eher defensive Stimmung entstanden ist.“ Eine „Manöver-Kritik“ an konkreten Aktionen wurde als „sehr schwierig“ abgelehnt: „Wir gehen davon aus, dass diejenigen, die dort waren, ihre Fehler kennen und sich damit auseinandersetzen. Wir als Außenstehende können wenig dazu sagen. Vielen, die die bisherigen Veröffentlichungen gelesen haben, werden bestimmte Fragen auch zu Details haben. Solange aber niemand dasteht und sich dazu bekennt (…), werden solche Spekulationen immer auf die Beschuldigten zurückfallen und von der BAW ausgenutzt werden.“ Das war damals und ist sicherlich auch heute im „Antifa Ost-Verfahren“ eine unbefriedigende Situation. Am Ende ihres Textes erklärten die „Betroffenen“ der K.O.M.I.T.E.E-Ermittlungen: „Eine öffentliche kritische Auseinandersetzung sollte unserer Meinung nach anderswo ansetzen, nämlich im politischen Bereich“ Das K.O.M.I.T.E.E. selbst schrieb hierzu: „Wir denken nicht, dass jede und jeder alle Details kennen muss, um sich mit der Aktion und unserer Politik auseinanderzusetzen und sich zu den Beschuldigten solidarisch zu verhalten.“4
Auch wir denken es ist an der Zeit, jenseits der konkreten „Manöver-Kritik“ wichtige politische Themen öffentlich zu diskutieren: Repressionsdruck durch Paragraph 129 (Kriminelle Vereinigung), Sexismus und Verrat in der Antifa-Bewegung, rechtes Framing in der Berichterstattung, Prozessstrategien… Wir hoffen mit diesem Schwerpunkt zum „Antifa Ost-Verfahren“ dazu beizutragen.
Umgang mit Militanz
Wir haben den Eindruck, dass einige Antifaschist_innen das „Antifa Ost-Verfahren“ aus ihrer politischen Arbeit und ihren Diskussionen ausblenden. Die Ausgangslage für eine einfache Positionierung ist denkbar schwierig: hoher Repressionsdruck, Verrat, Sexismus und Vergewaltigung im Kontext des Verfahrens, Antifaschist_innen auf der Flucht, laufende Ermittlungsverfahren, unschöne Fotos verletzter Neonazis. Für einige Antifaschist_innen hat eine offensive militante Praxis gegen Neonazis und die darauffolgende Repression offenbar überhaupt nichts mehr mit der eigenen Politik und Lebensrealität zu tun. Es entsteht zum Teil sogar der Eindruck, manche Antifaschist_innen fühlen sich durch das „exotische Hobby“ oder diese Art „Extrem-Sportart“ militanter Antifaschist_innen in ihrer politischen Komfort-Zone belästigt. Natürlich ist es mitunter unangenehm, sich (kritisch-)solidarisch auf eine politische Praxis zu beziehen, die gewaltförmiges Handeln nicht pauschal verurteilt. Doch was ist denn gemeint, wenn wir kritisieren, „die Antifa“ hätte den NSU nicht verhindert, oder in unseren Texten zitieren, die oberste Prämisse jedes politischen Handelns müsste sein, dass Auschwitz nicht noch einmal sei? Es ist leicht auf einem Danger Dan-Konzert beim Lied „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ laut „Militanz“ zu rufen.5
Nicht so leicht ist es leider, das „Antifa Ost-Verfahren“ kritisch-solidarisch zu begleiten. Die Art und Weise der vorgeworfenen militanten Praxis und der patriarchale Background können und müssen dabei kritisch reflektiert und kritisiert werden, das Thema wegzuignorieren ist hingegen nicht hilfreich. Eine antifaschistische Bewegung, die sich ihrer Verletzlichkeit, Schwächen und Fehler bewusst ist und darüber diskutiert, wie damit umzugehen ist, ist am Ende stärker, als eine Bewegung, die ihre Probleme ausblendet. Eine antifaschistische Bewegung, die sich in ihrer Praxis die Wahl der Mittel nicht vorschreiben lassen will und sich die Option direkter Angriffe auf Neonazis offenhalten will, muss auch bereit sein, politische Mitverantwortung für eine solche Praxis zu übernehmen. Dazu zählen (solidarische) Kritik und die Auseinandersetzung mit patriarchalen Verhaltensmustern genauso wie Antirepressionsarbeit. In Zeiten von Kontaktschuld-Paragraph 129-Ermittlungen und einer rechten Medienkampagne gegen antifaschistische Netzwerke ist Wegducken keine sinnvolle Option. Hier werden Maßstäbe in Punkto Repression, Entsolidarisierung und gesellschaftlicher Isolation gesetzt, die früher oder später auf die gesamte antifaschistische Bewegung zurückfallen dürften.
Haltung zeigen
Es spricht nichts dagegen, die grundsätzliche Legitimation von militanten antifaschistischen Aktionen zu verteidigen, sie inhaltlich zu begründen und dennoch solidarisch zu kritisieren. Man kann dazu die Klassiker von Bertold Brecht, Harry Mulisch oder den „Schwur von Buchenwald“ bemühen oder in die aktuelleren Debatten einsteigen. Nach einem auf Video festgehaltenen Schlag ins Gesicht des Neonazis Richard Spencer in Washington im Jahr 2017 war die Frage „Is It O.K. to Punch a Nazi?“ ein von „New York Times“ (USA), über „The Guardian“ (England) bis „Haaretz“ (Israel), von Slavoj Žižek (Philosoph) – er sagt „Nein“ – bis Harrison Ford („Indiana Jones“) – er sagt „Ja“ – gesellschaftlich breit diskutiertes Thema. In einem Text aus den 1990er Jahren über die „Grundlage der Solidaritätsarbeit für die verhafteten und verfolgten Antifas“ stand zutreffend, man sei „konfrontiert mit einer Ideologie, die auf Gewalt setzt, auf eine Gewalt, die keine Regeln kennt und die Würde und das Leben missachtet. (…) Für uns heißt das: Wir müssen sie stoppen, uns verteidigen (…) mit dem Rücken zur Wand. Mit Öffentlichkeitsarbeit, mit Blockaden, phantasievollen Aktionen – und Gegengewalt“.6
Faktisch relativierte sich die Bedrohung der 1990er Jahre für die Einzelnen und es eröffneten sich Räume für Lebensverhältnisse ohne „Baseballschlägerjahre“, in dem Maße wie diese eben auch aktiv zurückgedrängt wurden. Im besten Fall schafft es eine militante Antifa also, sich wieder überflüssig zu machen. Nur diejenigen, die (noch) nicht im Fadenkreuz der Neonazis stehen, können sich eine pauschale Distanzierung von Gegengewalt leisten. Die These, politische Gewalt sei immer falsch, ist historisch nicht zu halten. Aber immer richtig ist politische Gewalt auch nicht. Eine genaue politische Analyse ist notwendig sowie die Entscheidung, welches politische Mittel in welcher Situation angemessen ist. Die Frage ist also das „wie“: Die meisten deutschen Antifas haben zumindest den Luxus sich aussuchen zu können, wo, wie und wann sie in die Konfrontation gehen. Auch wenn sie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ausgesucht haben, können sie zumindest den Charakter der Auseinandersetzungen bestimmen. Antifaschistische Militanz muss nicht unbedingt schön sein, sondern vor allem wirkungsvoll: Und zwar in dem Sinne, dass sie Neonazis davon abhält, ihre Vernichtungsideologie umzusetzen, ohne sich dabei in einen Tunnelblick zu verlieren oder dem Erfolgsdruck zu verfallen, ein Aktionsniveau oder einen Mythos aufrechtzuerhalten. Im besten Fall ist Antifa-Militanz manchmal leider nötig, ohne dabei sinnstiftend und Selbstzweck zu werden. In etwa so, wie den Müll runterzubringen oder die Spülmaschine auszuräumen. Das würde auch verhindern, dass „Antifa-Sportgruppen“ Menschen anziehen, die meinen sich und anderen etwas beweisen zu müssen. Das Dilemma dabei ist, dass eine antifaschistische Linke, die nicht blindwütig zuschlägt, sondern weiß was sie tut, und dabei zielgerichtet und reflektiert vorgeht, den staatlichen Behörden umso gefährlicher erscheint. Dennoch: sich in diesem Sinne verbindlich zu organisieren ist kein geheimer „Fight-Club“, sondern im besten Fall Kiez-Konsens und Gemeinschaftsaufgabe.7 Ein Gefühl, den Verhältnissen ohnmächtig gegenüberzustehen und etwas tun zu müssen, sollte nicht auf den Schultern von wenigen liegen. Es ist nicht das Spezialgebiet einiger weniger, sondern die Aufgabe von allen, denen etwas daran gelegen ist, sich im Alltag frei von Sexismus, Rassismus und Neonazi-Gewalt bewegen zu können. Statt naserümpfend zu fragen, wo denn „die Antifa“ ist, wenn man sie braucht, ist es jeder_m freigestellt, sich selbst aus dem Werkzeugkasten der politischen Interventionsmöglichkeiten zu bedienen.
Verantwortung übernehmen
Der Verantwortung für die Folgen von Aktionen muss aber auch übernommen werden können und die Wahl der Mittel dementsprechend angepasst werden. Die Konsequenzen der Repression tragen nicht nur die tatsächlichen und vermeintlichen Beteiligten, sondern auch deren Umfelder und weitere politische Strukturen. Das Risiko ungewollter Ergebnisse muss so gering wie irgend möglich gehalten werden. Dies ist eine Erkenntnis aus den Diskussionen rund um den Tod des Neonazis Kaindl im Jahr 1992 in Berlin, der in eine Zeit fällt, die heute als „Baseballschlägerjahre“ bezeichnet wird, um die Allgegenwärtigkeit (tödlicher) Neonazigewalt zu beschreiben. Die geführten Debatten verfestigten ein Verständnis von Verantwortung bei Antifa-Aktionen und gingen damals in das kollektive Gedächtnis der Linken ein. Es soll hier keine simple Gleichsetzung mit der aktuellen Situation vorgenommen oder gar Vorwürfe gegen die Betroffenen erhoben werden. Aber es fällt auch im „Antifa Ost-Verfahren“ auf, dass Bundesanwaltschaft, Gericht und die überwiegende Mehrzahl der Pressevertreter_innen geradezu erpicht darauf sind, den Angeklagten (und der Antifa generell) Verrohung vorzuwerfen. Wer sich Verrohung nicht vorwerfen lassen will, sollte das mildeste zielführende Mittel wählen.
Die Übernahme von Verantwortung muss aber in besonderem Maße auch für die Beziehungen untereinander gelten. Denn als gesamtgesellschaftliche Probleme machen gewaltvolle und unterdrückende Mechanismen auch nicht vor der linken Szene halt. Genauso, wie über die Wahl der Mittel bei militanten Aktionen, muss deshalb über patriarchale Dynamiken und Verhaltensweisen innerhalb linker Strukturen gesprochen und sexualisierter Gewalt konsequent begegnet werden, indem Betroffene unterstützt, potentiell Betroffene geschützt, marginalisierte Positionen gestärkt und natürlich Täter_innen und deren (schützende) Umfelder zur Verantwortung gezogen werden. Es gilt Strukturen zu schaffen, die keine Machtstrukturen begünstigen und in denen Unangreifbarkeit und Unersetzbarkeit von Personen gezielt verunmöglicht wird. Es darf keine kritikfreien Räume geben.
Neben der Diskussion über Repressionsrisiken und Verhältnismäßigkeiten muss zur politischen Praxis deshalb auch gehören, offen über Ängste, Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen und sich gegenseitig solidarisch zu kritisieren. Und das nicht erst, wenn mal wieder eine Grenzüberschreitung passiert ist oder ein Outing veröffentlicht werden musste, sondern ganz selbstverständlich und als fester Bestandteil des alltäglichen politischen Miteinanders. „Radikale Bewegungen können sich die Zerstörung, die geschlechtsspezifische Gewalt verursacht, nicht leisten. Wenn wir die politische Auswirkung patriarchaler Verhaltensweisen in unseren Gemeinschaften unterschätzen, wird unsere Arbeit nicht überleben.“8
Aus Erfahrungen lernen?
Rückblicke in die Geschichte der militanten Linken mögen helfen, um Lehren zu ziehen. Es stellt sich aber auch die Aufgabe, etwas aus dem „Antifa Ost-Komplex“ zu lernen, ohne mit einer Kritik spekulativ und unsolidarisch zu werden. Die Selbstkritik des K.O.M.I.T.E.E.‘s beschäftigte sich unter anderem mit Problemen wie selbst gemachtem Zeitdruck und mangelnder Reflektion im „laufenden Betrieb“. Es scheint uns so, als ob im „Antifa Ost-Komplex“ nicht nur die Vergewaltiger-Verräter-Personalie und die Gesetzesverschärfung des Paragraph 129 samt Anwendung gegen Antifas die bemerkenswerten Besonderheiten und Neuheiten darstellen. Spätestens seit den 1980er Jahren und verstärkt seit den 1990er Jahren sind Antifas in Deutschland gegen Neonazis aktiv und werden bei Straftaten (und auch ohne) mit hohem Aufwand von Polizei und Justiz verfolgt. Letzteres lief in knapp 40 Jahren ganz überwiegend erfolglos – ohne behaupten zu wollen, dass ein Verfolgungsdruck nicht spürbar war. Spektakulär hohe Verurteilungen gab es jedenfalls dennoch kaum und die Praxis war mehr oder weniger die gleiche wie heute. Fehler wurden in gewissem Umfang immer schon gemacht, aber allem Anschein nach waren die bisherigen Bemühungen geeigneter, um der Repression auszuweichen. Falls dies kein reines Glück oder Zufall war, stellt sich nun die Frage, ob an vorhandene Erfahrungen nicht angeknüpft werden konnte und gegebenenfalls weshalb nicht. Dies können wir jedoch kaum beantworten, ohne in Spekulationen zu verfallen. Es erscheint angesichts der vor Gericht gewürdigten dünnen Indizienlage sogar ungewiss, dass die Verurteilten das könnten.
Ausblick – Wie weiter?
Es gibt offenbar keinen richtigen Zeitpunkt für heikle politische Debatten und es scheint immer gute Gründe zu geben, diesen Debatten aus dem Weg zu gehen: Vor Repressionsschlägen scheint die Debatte zu gefährlich und während der laufenden Ermittlungen will sich erst recht niemand äußern, um den Repressionsbehörden keine weiteren Angriffsflächen zu bieten. Ist die Repression scheinbar abgeschlossen, ist mensch froh, endlich wieder zum „Alltagsgeschäft“ überzugehen und einen Schlussstrich zu ziehen. Dies führt dazu, dass Fehler nicht aufgearbeitet werden und sich zu wiederholen drohen. Anstatt sich einschüchtern zu lassen, gilt es jedoch, den Werkzeugkasten der politischen Interventionsmöglichkeiten in diesem Sinne zu erweitern, mehr Mut für politische Diskussionen zu entwickeln, Selbstreflektion zu üben, solidarische Kritik zu formulieren, Haltung zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen, aus Erfahrungen und Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und vor allem, patriarchale Strukturen aufzubrechen.
Darüber hinaus schließen wir uns den Forderungen der anarcha-queerfeministischen Gruppe aus Berlin aus ihrem Beitrag „Warum wir einen queerfeministischen Antifaschismus brauchen“ darin an, Militanz als unabdingbar verbunden zu begreifen mit einer stetigen Reflexion der eigenen Rassismen, Sexismen sowie toxischen Verhaltensweisen, und uns selbst und unsere Umfelder deshalb anhand der folgenden Fragen immer wieder (solidarisch)-kritisch zu überprüfen: Aus welcher Motivation heraus wird wie gehandelt? Welche Arbeit wird wie in unseren Gruppen wahrgenommen, wer übernimmt welche Aufgaben? Wie führen wir Beziehungen zueinander, zu wem setzen wir uns in Bezug? Wem gegenüber zeigen wir uns weich und verletzlich? (Wem gegenüber) können wir Emotionen zeigen? Wann strahlen wir Härte und Gewaltbereitschaft aus? Wie wirkt es sich auf uns und unsere Beziehungen aus, wenn wir (physische) Gewalt gegenüber Neonazis anwenden? Wem gegenüber zeigen wir uns zugänglich? Wen nehmen wir ernst, wenn eine Person spricht und welche Personen überhören wir? Mit wem können wir Zweifel und Ängste besprechen, und können wir diese äußern, ohne dass unser konsequentes Handeln und unsere antifaschistische Haltung in Frage gestellt wird?
Gemeinsames Agieren setzt zur eigenen Sicherheit gemeinsames Reden voraus. Es sollte immer genug Zeit vorhanden sein, um alle Unklarheiten, Fragen und Ängste umfassend zu besprechen. Denn Diskussionen schaffen Vertrauen und Sicherheit zur Abfederung von Repressionsdynamiken. Und Repression ist kein individuelles Problem. Repression ist die Folge der kollektiven Verantwortung, Neonazigewalt zurückzudrängen, daher muss auch die Antwort auf die Repression eine kollektive sein. Um die Vereinzelung zu durchbrechen und einen gemeinsamen Umgang zu finden, hilft auch hier nur, immer wieder zu fragen und zu reden, reden, reden. Durch gegenseitiges Vertrauen können wir eine kollektive Stärke entwickeln, die als Grundlage dafür notwendig ist, die gemeinsamen politischen Kämpfe weiterzuführen und auf patriarchale Machtstrukturen, sexuelle Übergriffe und Angriffe staatlicher Repressionsbehörden adäquat reagieren zu können.
In diesem Sinne, wir freuen uns über (Gruppen)Beiträge zur Diskussion.
- 1Im Zuge einer Demonstration am 2.11.1987 gegen den Frankfurter Flughafen wurden tödliche Schüsse auf Polizeibeamte abgegeben, ein Novum in der Geschichte sozialer Bewegungen. Um die Spirale aus Aussagen, Einlassungen und Verratsvorwürfen zu beenden, rief der Ermittlungsausschuss unter dem Slogan „Anna und Arthur halten’s Maul“ zu einer Kampagne zur Aussageverweigerung auf. Mitglieder der Startbahn-Bewegung erklärten dazu: „Wir wissen nicht, wer und ob jemand aus unseren Reihen geschossen hat. Wir wissen aber, daß der Einsatz von Schusswaffen auf Demonstrationen immer nur Überlegungen der Polizei waren, aber zu keinem Zeitpunkt der Startbahnbewegung ein von uns übernommenes Konzept […] So eindeutig unsere Kritik ist, so unmissverständlich unsere Haltung, niemanden dieser Justiz auszuliefern. […] Wir wissen, daß wir den ‚Punkt Null‘ lange verlassen haben: Dort die Justiz, die außer ihren ‚Indizien‘ nichts in der Hand hat, hier wir, die Startbahnbewegung, die dieser Justiz nichts zu sagen hat. Einige von uns haben z. T. weitreichende belastende Aussagen gemacht, nicht nur gegen sich, sondern auch gegen andere. Die gegenseitige Solidarität wurde zerstört, das daraus entstandene Mißtrauen zum Hebel für Verhörbullen, um weitere Aussagen zu erzwingen. Wir haben dieses Aussagekarussel unter großen Anstrengungen zum Stoppen gebracht. Wir wollen nicht, dass dieses Aussagekarussel im Prozess neu angetreten wird. […] Wir fordern alle Angeklagten und Zeugen auf, ihre belastenden Aussagen zu Beginn des Prozesses zurückzunehmen.“
- 2Ende 1994 standen in Berlin Antifaschist_innen vor Gericht, die meisten von ihnen Migrant_innen. Ihnen wurde der Tod des Neonazi-Kaders Gerhard Kaindl zur Last gelegt, der im April 1992 bei einer Antifa-Aktion starb.
- 3Dokumentation des Textes „Die Mühen der öffentlichen Ebene“ in der Broschüre „Als das K.O.M.I.T.E.E. ein Osterei legte“, Februar 1999
- 4Dokumentation von „Knapp daneben ist auch vorbei – Zweite Erklärung des K.O.M.I.T.E.E.s, September 1995“ in der Broschüre „Als das K.O.M.I.T.E.E. ein Osterei legte“, Februar 1999
- 5Im Lied heißt es „Und wenn du friedlich gegen die Gewalt nicht ankommen kannst, ist das letzte Mittel, das uns allen bleibt, Militanz.“
- 6Diskussionspapier für eine inhaltliche Grundlage der Solidaritätsarbeit für die verhafteten und verfolgten Antifas. In: Dass Du dich wehren musst… Der ‚Fall Kaindl‘. Eine Nachbetrachtung. 1994
- 7Vgl. 40 Dinge Faschismus zu bekämpfen, Spencer Sunshine und PopMob
- 8Vgl. Warum Misogynisten gute Informanten sind, Courtney Desiree Morris, make/shift magazine, Los Angeles, No. 7, 2010, Dt. Übersetzung: https://kontrapolis.info/7803