In wenigen Tagen beginnt der erste Prozess gegen die RAF Militante Daniela Klette, welche derzeit in Vechta im Knast sitzt. Der Artikel entstammt der SZ.

Sie tanzte Samba, reiste um die Welt – und alle paar Jahre soll sie mit alten RAF-Genossen auf Raubzug gegangen sein. Bald steht Daniela Klette vor Gericht. Und ihre Freunde stehen vor dem Rätsel, wer die Frau war, die sich „Claudia“ nannte.

Wahre Freundschaft zeigt sich in schwierigen Zeiten, heißt es. Aber was, wenn plötzlich gar nicht mehr klar ist, wer die Freundin wirklich ist? Die „Claudia“, mit der sie sich in der brasilianischen Kulturszene Berlins angefreundet hat? Die sie kannte, oder besser: zu kennen glaubte. Die Tänzerin, die ihren Hund liebte und so gern spazieren ging. Und dann auf einmal Daniela, die mutmaßliche Terroristin. Es sei schwer für sie, das zusammenzubringen, sagt die Frau, die anonym bleiben will, aus Sorge, in die ganze Sache reingezogen zu werden.

Ihre Bekannte, die sich nie mit irgendjemandem gestritten habe, soll in ihrem zweiten Leben also Geldtransporter überfallen haben. Eine Schwerverbrecherin?

Was ist echt, was ist Täuschung? Mit welchem Freundschaftsdienst, um den sie bat, haben ihr die Freunde möglicherweise unwissentlich im Untergrund geholfen? Das sind die Fragen, die sich auch die Ermittler jetzt stellen.

Am 25. März beginnt vor dem Landgericht Verden der Prozess gegen diese Frau, die viele Namen hatte und mindestens zwei Leben. Angeklagt wegen versuchten Mordes, dreizehnfachen Raubes und Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Das Gericht baut für das Verfahren einen Hochsicherheitssaal. Bis der fertig ist, wird in Celle verhandelt. Es wird auch darum gehen, wie sie es so lang geschafft hat, nicht erwischt zu werden. Mehr als 34 Jahre.

Am Nikolaustag 1989 kontrollieren Polizisten in Wiesbaden eine Frau vor ihrer Wohnung: „Daniela Marie-Luise Klette“ steht in ihrem Ausweis, geboren am „5.11.1958“ in Karlsruhe. Es soll für lange Zeit das letzte Mal sein, dass sie der Polizei begegnet. Sie taucht ab und wird, so sieht es damals wie heute die Bundesanwaltschaft, zur Terroristin. Als mutmaßliches Mitglied der RAF ist sie bald eine der meistgesuchten Frauen des Landes.Ein Schreiben der Roten Armee Fraktion mit dem RAF-Symbol.

Foto: Tim Brakemeier/dpa

Die erste Generation der Terrorgruppe war schon in den Siebzigern bombend und mordend durchs Land gezogen, angeführt von Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Als die Köpfe der Zelle verhaftet waren, versuchte eine zweite Generation, sie im „Deutschen Herbst“ 1977 unter anderem mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer freizupressen, den sie schließlich ermordete. Anfang, Mitte der Achtziger formierte sich eine dritte Generation. Zehn Morde bis 1993 werden dieser zugerechnet, darunter die an Deutsche-Bank-Vorstandssprecher Alfred Herrhausen und Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder. Bis heute ist nur der Mord am GSG-9-Beamten Michael Newrzella aufgeklärt. Wann genau Klette mutmaßlich dazustieß, was sie wusste, wissen die Ermittler bis heute nicht.

Der Generalbundesanwalt wirft ihr vor, an drei Aktionen beteiligt gewesen zu sein: als die RAF das Technikzentrum der Deutschen Bank in die Luft jagen wollte (der Zeitzünder versagte), als sie mit Sturmgewehren auf die US-Botschaft in Bonn ballerte und als sie die nagelneue JVA Weiterstadt sprengte. Fragen von SZ, NDR und WDR beantworten Klettes Anwälte nicht.

Zwei ehemalige RAF-Genossen wollten sie vor ein paar Monaten in der U-Haft besuchen, aber sie bekamen Besuchsverbot. Offenbar ist die Angst vor Befreiungsversuchen groß. Was Klette als RAF-Terroristin getan haben soll, darum wird es in dem Prozess, der jetzt beginnt, allerdings nicht gehen. Dazu ermittelt der Generalbundesanwalt noch. In ein, zwei Jahren wird Klette dafür wohl noch ein zweites Mal vor Gericht stehen. Jetzt geht es erst mal um das, was sie getan haben soll, als es die RAF nicht mehr gab: dreizehn Raubüberfälle, mutmaßlich begangen, um sich ein Leben im Untergrund zu finanzieren. 1998 nämlich hat sich die Terrororganisation endgültig aufgelöst. Viele aus der Gruppe waren den Fahndern da längst ins Netz gegangen.

Sie lebte ein Vierteljahrhundert mitten in Berlin, fünfter Stock, eineinhalb Zimmer

Drei nicht: Daniela Klette, Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub.

Bis zum 26. Februar 2024. An jenem Abend klingeln zwei Polizisten an einer Wohnungstür in Berlin-Kreuzberg. Sie haben einen Hinweis bekommen, dass hier Daniela Klette wohnen könnte. Nur, seit das Landeskriminalamt Niedersachsen die Fahndung 2015 übernommen hat, sind schon viele solcher Hinweise eingegangen, alle liefen ins Leere. Zwar führte zuletzt einer konkret in die afrobrasilianische Kulturszene der Hauptstadt, aber eine „Claudia Schmidt“, die Klette ähnlich sieht, haben sie schon kontrolliert. Und die war es nicht.

Niemand rechnet damit, dass hier, in der Sebastianstraße, wirklich Daniela Klette lebt. Es geht eher darum, auch diese Spur abzuhaken. Als die Beamten klingeln, macht eine Mittsechzigerin auf, zeigt einen italienischen Pass, der auf „Claudia Bernadi“ lautet. Sie sagt, sie müsse noch kurz den Hund anleinen, sei gleich wieder da. Drinnen schreibt sie eine SMS, sie lautet sinngemäß: Sie haben mich. Die Nachricht geht an Burkhard Garweg.

Die Polizisten nehmen sie mit. Auf der Wache stellt sich heraus: Sie haben die Richtige. Als die Beamten sie aus der Dienststelle führen, um sie zum Ermittlungsrichter zu bringen, ruft sie, so halten es die Ermittler in den Akten fest: „Ich bin Daniela Klette von der RAF und bin festgenommen!“ Vielleicht um sicherzugehen, dass ihre Komplizen es auf jeden Fall mitbekommen.

Polizisten vor ihrer Wohnung in Berlin, Februar 2024.

Foto: Sean Gallup/Getty Images

34 Jahre hat sie im Untergrund gelebt.

Und wer sich diesen Untergrund als düsteres Kellerversteck vorstellt oder als Bauernhof im venezolanischen Regenwald, der liegt daneben. Mindestens ein Vierteljahrhundert lang lebte Klette in Berlin, die längste Zeit in der Sebastianstraße, fünfter Stock, keine 40 Quadratmeter, zur Untermiete. Aus Verbundenheit, wie der Hauptmieter sagt. Wer sie wirklich ist, habe er nicht gewusst.

Garweg lebte keine zwanzig Fahrradminuten entfernt von Klette auf einem Bauwagenplatz. Bis sie ihm die SMS schickte und er abhauen konnte, bevor die Polizei auftauchte. Auch Staub soll in Klettes Wohnung gewesen sein, so zumindest wollen sich manche erinnern.

Im Nachhinein, sagt die Bekannte aus der Brasil-Szene, fallen ihr Besonderheiten auf. „Claudia“, sagt sie noch oft und korrigiert sich dann, also „Daniela“ sei eigentlich unauffällig gewesen. Freundlich, hilfsbereit, aber selbst Freunde hielt sie auf Distanz. „Da gab es einen Bereich, den sie nicht geteilt hat“, sagt die Bekannte.

Gespräche mit Freundinnen, Bekannten und Ermittlern sowie die Anklageschrift, die Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR einsehen konnten, zeichnen das Bild einer Frau, die sich viel Mühe gab, nicht aufzufallen – die mit der Zeit allerdings unvorsichtiger wurde. Und die mit ihren früheren RAF-Genossen Garweg und Staub immer wieder losgezogen sein soll, um Supermärkte und Geldtransporter zu überfallen. 2 763 590,91 Euro soll das Trio dabei von 1999 bis 2016 insgesamt erbeutet haben. Sollte reichen für ein bescheidenes Leben auf eineinhalb Zimmern und im Bauwagen. Lange hatten sie ja auch nichts zu befürchten von der Polizei.

Ihr geht durch den Kopf, was sie gelernt hat: keine Faxen, keine Gegenwehr, Leben geht vor Geld

Ganz früh taucht ihre Spur zwar auf. Nach einem Geldtransporterüberfall in Duisburg 1999, bei dem drei Täter mehr als eine Million D-Mark erbeuten, finden die Ermittler DNA von Klette, Staub und Garweg am Fluchtwagen. Aber dann ist es, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.

Bis am 6. Juni 2015 in Stuhr bei Bremen wieder ein Geldtransporter überfallen wird. Drei Maskierte stellen sich dem Wagen in den Weg: laut Anklage Garweg, Staub und Klette, bewaffnet mit Sturmgewehren, Maschinenpistole und einer Panzerfaust, die sich später als Attrappe herausstellt. Einer der Maskierten – laut Anklage Garweg – schießt in die Beifahrerscheibe und in die Tür. Die Projektile durchschlagen die Panzerung. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Fahrer nur durch Glück nicht verletzt wird. DNA-Spuren führen die Polizei zu den drei gesuchten mutmaßlichen Ex-Terroristen. Eine Sensation.

Die Ermittler in Niedersachsen kramen alte Akten raus zu Raubüberfällen in Nord- und Westdeutschland. Ihnen fallen Gemeinsamkeiten auf. Sie lassen DNA-Spuren abgleichen. Nach und nach ordnen sie dem Trio immer mehr Überfälle zu. „RAF-Rentner“ nennt sie der Boulevard.

Sylvia Ahringhoff erfährt von ihrem Sohn, dass sie da offenbar in etwas Größeres hineingeraten ist. 2018 sieht er bei Facebook einen Artikel, in dem etwas steht, das sie noch heute für ziemlich irre hält: dass sie wohl von drei einstigen RAF-Leuten überfallen wurde. Sie hätte gar nicht mehr damit gerechnet, sagt sie, dass die Polizei noch rausfindet, wer die Täter waren. Das Ganze war damals schon neun Jahre her. Und dass es dann ausgerechnet diese drei gewesen sein sollen: „Das hätte ja keiner erwartet, ganz ehrlich.“

Sylvia Ahringhoff vor dem Marktkauf in Löhne, wo sie am 12. April 2009 überfallen wurde.

Foto: Christoph Koopmann

Es ist ein kühler Februartag, Ahringhoff, 54, steht an dem Ort, an dem es passiert ist an jenem Dienstag nach Ostern 2009. Löhne in Ostwestfalen, ein riesiger Parkplatz, am Ende der Marktkauf. In der Luft liegt das Dauerrauschen der A 30.

21 Jahre lang hat sie für Marktkauf gearbeitet, die meiste Zeit hier in Löhne. Sie schaut rüber zum Supermarkt. Ihre Kolleginnen, sagt sie, waren wie eine Familie. An jenem 12. April 2009 war sie als Kassenleiterin dafür zuständig, die Einnahmen vom Osterwochenende zu zählen und wegzuschließen. Als sie mit einer Kollegin ins Kassenbüro ging, sprangen zwei Männer auf sie zu und riefen: „Überfall!“ Sylvia Ahringhoff erinnert sich, wie sie ihr zugerufen hätten: „Ihnen passiert nichts. Wir wollen nur das Geld.“

Sie erzählt, wie ihr in den Kopf kam, was sie in einem Sicherheitstraining gelernt hat: keine Faxen, keine Gegenwehr, Leben geht immer vor Geld. Also öffnete sie die Tresore. Sie musste sich hinlegen, nahm die Hand ihrer Kollegin. Dann verschwanden die Männer. Eine Minute, dann war alles vorbei.

Der Polizei konnte sie damals nur sagen, dass die Räuber schlank waren, um die 1,80 Meter. „Die waren komplett verpackt“, mit Skimasken und einer Art Verband. Die Staatsanwaltschaft Verden glaubt heute, dass es Garweg und Staub waren. Mit dem Geldkoffer und einer Kiste voller Scheine sprangen die beiden in einen roten Golf, der draußen wartete. Klette soll am Steuer gesessen haben. Ahringhoff zeigt auf die Böschung. „Hier sind die runter.“ Dann über den Fahrradweg Richtung Autobahn. Passanten fanden den Golf später in einem Wald in der Nähe, unter einem Tarnnetz. Der Geldkoffer war drin. Aber leer.

Panzerfaustattrappe, Perücken, haufenweise Ausweise, sie hat alles aufgehoben

Was für ein Glück, dass sie da heil rausgekommen sind. Das war ihr Gedanke damals, sagt sie.

Und da war noch ein anderer Gedanke: „Wie haben die das geschafft, so genau Bescheid zu wissen, wo alles steht, wer die Möglichkeit hat aufzumachen?“ Über Tage und Wochen müssen die sie und ihre Kolleginnen ausgespäht haben. Immer wieder scannte sie später im Laden die Leute ab: Wer ist auffällig?

Die Ermittler gehen davon aus, dass die drei Verdächtigen sich ähnlich ausführlich auf diesen Überfall vorbereitet haben müssen wie bei den anderen, die sie dem Trio vorwerfen.

Als die Beamten im Februar und März 2024 Klettes Wohnung durchsuchen, finden sie einiges: 239 000 Euro in bar, 1,2 Kilogramm Gold, ein ganzes Arsenal an Waffen inklusive Panzerfaustattrappe, Perücken, Klebebärte, Sturmhauben, 17 Ausweise und Führerscheine, ausgestellt auf diverse Namen.

Ein Fahndungsplakat von Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg am Amtsgericht Verden, Februar 2024.

Foto: Sina Schuldt/dpa

Und Aufzeichnungen, in denen es um den Marktkauf in Löhne geht.

Auf einem „Hello Kitty“-Collegeblock stehen auch Uhrzeiten und Kürzel, mit denen wohl Orte gemeint sind – möglicherweise die Route eines Geldtransporters. Auf einer CD ein Dokument von 2001 mit Details zu einem Real-Supermarkt in Bochum, bis zum Namen einer Kassiererin – 2006 wurde der Real überfallen, auch hierfür ist Klette angeklagt. Es finden sich noch zig weitere Zettel und Dateien mit Notizen zu Supermärkten, Geldtransporten und Banken von Heppenheim bis Bremerhaven. Alles offenbar ausgespäht, um vielleicht mal zuzuschlagen.

In der Wohnung liegen auch Zeitungsartikel zu Überfällen, viel mehr als die dreizehn, die man dem Trio jetzt vorwirft. Und ein SZ-Artikel aus der Zeit der Euro-Einführung, der erahnen lässt, welche Probleme man als mutmaßliche Räuberbande hat, die noch 1999 eine knappe Million Deutsche Mark erbeutet haben soll: Es geht darum, wie Schwarzgeldbesitzer unversteuerte Bargeld-Großbeträge in Euro zu tauschen versuchen, ohne dass der Staat etwas mitbekommt. Klette hat alles aufgehoben. Ein Schatz für die Ermittler.

Anfangs sollen die drei laut Anklage nur alle paar Jahre auf Raubzug gegangen sein. Dann wurden die Abstände kürzer. Allein zwischen August 2014 und Juni 2016 sollen es sieben Überfälle gewesen sein. Am Ende: der Jackpot, ein Geldtransporter bei Braunschweig. Fast 1,4 Millionen Euro.

Und niemand, der sie als Claudia kannte, will geahnt haben, wer sie wirklich ist

Die Überfälle erfordern den Ermittlern zufolge eine aufwendige Vorbereitung. In Bremen und Hildesheim zum Beispiel sollen Klette und ihre Komplizen Wohnungen angemietet haben, um ihre Ziele auszukundschaften. Es waren wohl wochenlange Ausflüge außerhalb Berlins, für die Klette Ausflüchte vor ihren Freunden braucht.

Meistens erzählt sie ihren Bekannten, sie betreue Senioren in Süddeutschland. Sie müsse „im Moment wirklich viel arbeiten“, schreibt sie im November 2014 in einer Mail. Am schlimmsten werde es im Dezember und um Weihnachten, da machten viele Urlaub, nur sie nicht. Dafür habe sie im Neuen Jahr wieder mehr Geld: „Das ist ja auch sehr wichtig.“

Am 2. Januar 2015 sollen Garweg, Staub und Klette einen Supermarkt in Osnabrück überfallen haben.

Zwei Tage danach schreibt Klette, sie habe lang nichts von sich hören lassen, weil sie „arbeitsmäßig im Super-stress“ gewesen sei, jetzt sei es erst mal ein bisschen ruhiger. Ähnliche Nachrichten findet das LKA auch rund um die Zeitpunkte anderer Überfälle, die man ihr vorwirft.

Es wirkt fast, als wollte Klette allen Fragen vorbeugen. Und niemand, der sie als Claudia kannte, will geahnt haben, wer sie wirklich ist.

Burkhard Garweg alias „Jens“, Daniela Klette alias „Claudia“ und Ermeson Gomes da Silva (von l. nach r.).

Foto: privat

Auch Ermeson Gomes da Silva nicht. Dabei ist er eine Zeit lang so eng mit ihr verbunden wie wohl kaum jemand sonst. Die beiden lernen sich 2001 kennen, sagt er. Es ist Mitte Februar, er sitzt in der Wohnung eines Freundes in Berlin, Gomes da Silva, 52, Brasilianer, stundenlang erzählt er. Er weiß noch, wie er sie das erste Mal traf, in einer Berliner Sambaschule. Er unterrichtete, sie wollte Samba lernen, war fleißig, hatte aber offenbar überschaubares Talent, Gomes da Silva lacht. Sie sahen sich von da an regelmäßig.

Als er sich von seinem Partner trennte und aus der Wohnung auszog, zog er sogar bei Claudia in ihrer damaligen Unterkunft ein, sagt er. „Sie hat mir zugehört, ihre Schulter gegeben zum Weinen.“ Wie eine Schwester sei sie für ihn gewesen.

Er fand es gut, dass sie nicht so verschlossen war wie die anderen Deutschen, dass man sie spontan besuchen konnte, dass sie vorbeikam, ohne sich vorher anzumelden. „Sie war eine Deutsche, aber locker, ein Hippie.“ Die beiden tranken, rauchten, konnten über alles sprechen, manchmal war auch jemand dabei, den Claudia ihm als ihren Ex-Freund vorstellte. Er kannte ihn als Jens, heute weiß er seinen echten Namen: Burkhard Garweg, Klettes Komplize, der jetzt noch untergetaucht ist.

Auch Ernst-Volker Staub habe er einmal getroffen, als „Peter“, sagt er. Gomes da Silva hat Schwarz-Weiß-Abzüge auf dem Tisch ausgebreitet, er nimmt ein Bild die Hand, es zeigt Klette, ihn und einen Freund. „Jens“, also Garweg, habe damals fotografiert. Mehr als zwanzig Jahre ist das jetzt her.

Sie machte immer einen Bogen um Polizisten, jetzt ist ihm natürlich klar, warum

Es sind Kleinigkeiten, die ihm im Nachhinein komisch vorkommen. Er erinnert sich, dass sie immer einen Bogen um Polizisten machte. Gomes da Silva sagt, er habe immer gewusst, dass Claudia ein Geheimnis habe, dass etwas in ihrem Leben passiert sein muss. Weil sie kaum etwas aus ihrer Vergangenheit erzählte, ihre Familie nur knapp erwähnte. „Ich habe das so stehen gelassen“, sagt er. „Jeder hat ein Geheimnis.“

Ein paar Monate wohnten sie als WG in Berlin, 2006 ging er zurück nach Brasilien. Aber wenn er in Deutschland war, sahen sie sich meist. Sie besuchte ihn sogar einmal in Brasilien, 2013 war das. Noch so ein Rätsel: Wie konnte es Klette gelingen, mit falschen Pässen Fernreisen zu unternehmen? In Brasilien war sie mindestens zweimal, ergibt sich aus Aussagen von Freunden und Bekannten, es gibt auch Fotos von dort. Bei einer dieser Reisen lernt sie einen Mann kennen, den sie nach Deutschland einlädt und mit dem sie eine Weile zusammen ist. Auch in Südafrika war sie, wie ein anderer Freund bestätigt, den sie dort besuchte, offenbar auch in Mosambik.

Die abenteuerlustige Claudia. „Sie bleibt immer meine Freundin“, sagt Ermeson Gomes da Silva. „Sie war eine tolle Frau.“ War.

Klar hat er mitbekommen, dass Klette festgenommen wurde. Ein Freund hatte ihm davon erzählt. „Natürlich war ich geschockt“, sagt Gomes da Silva. Er, der Brasilianer aus einfachen Verhältnissen, den die Liebe nach Deutschland verschlug, kennt eine mutmaßliche Terroristin. Wobei:

Foto: Sebastian Erb

„Ich kenne Daniela Klette nicht“, sagt er. „Ich kenne nur Claudia.“

Nicht alle ihre Freunde und Bekannten reden so offen. Da ist der Capoeira-Lehrer, mit dem sie zu Kursen durch Deutschland reiste und nach Brasilien, der nichts mit der Sache zu tun haben will. Klette hat sogar für ihn gearbeitet. Da ist die Frau, die eine Arztrechnung übernommen haben soll, als sich Klette 2021 den Fuß gebrochen hatte. Als man sie an ihrer Wohnungstür auf ihre Bekannte anspricht, sagt sie nur: „Bitte gehen Sie.“

Andere bitten um Verständnis und wollen, dass ihre Namen nirgendwo auftauchen. Sie erzählen, wie sie die Nachricht von der Festnahme lasen. Manche fragen sich, ob sie jetzt all die Erinnerungen tilgen müssen oder ob es doch ein richtiges Leben im falschen gibt. Eine sagt, es fühle sich komisch an, ihr immer am falschen Tag zum Geburtstag gratuliert zu haben. Andere sind verletzt, fühlen sich verraten.

Aber eines sagen die meisten: Claudia habe sie wohl beschützen wollen, deshalb sei sie, wenn sie mal von sich erzählte, kaum ins Detail gegangen.

Über Politik habe sie nicht viel geredet, aber ihre Grundhaltung war klar: „Militant Kreuzberg“

In Klettes Wohnung finden die Ermittler auf einer Festplatte eine Datei „Erinnerungen“. Klette beschreibt da, wie sie aufwuchs als „Wirtschaftswunderkind“ in Karlsruhe, die Mutter Zahnärztin, der Vater Vertreter. Wie sie lieber in den Park ging als in die Schule, um mit Freunden zu kiffen und zu philosophieren. Wie sie anfing, in der Schule Wandzeitungen zum Vietnamkrieg aufzuhängen und über linke Kreise Freunde fand, die sie irgendwann, wohl Ende der Siebziger, ins Umfeld der RAF führen sollten.

Nachdem die Terrorgruppe ihr offizielles Ende verkündet hatte, hat Klette sich in Berlin-Kreuzberg ein neues Leben aufgebaut. Sie wohnte in einer Nachbarschaft, in der niemand viel fragte. Sie soll immer sparsam gelebt haben, wenig neue Kleidung, spazieren auf dem Tempelhofer Feld statt essen gehen. Sie hat sich mit Menschen umgeben, die es tolerierten, wenn jemand kaum etwas von sich preisgibt.

Viele erinnern sich, dass sie nicht oft über Politik gesprochen habe, und wenn, dann eher über die Unterdrückung der afrobrasilianischen Bevölkerung als über die Haltung der Bundesregierung zum Irakkrieg. Aber ihre politische Grundhaltung sei klar gewesen. „Militant Kreuzberg“, so hat es ein Zeuge den Ermittlern gesagt: An allem Übel sind die Amerikaner schuld.Daniela Klette (r.) mit Freunden.

Foto: privat

Mit der Zeit aber scheint sie unvorsichtiger geworden zu sein. Sie ging in alle möglichen Tanz- und Capoeira-Gruppen. Sie eröffnete ein Profil auf Facebook, Fotos wurden verlinkt, auf denen sie ziemlich genau so aussieht wie auf den Fahndungsplakaten, nur älter. Sie schreibt E-Mails, SMS, Whatsapp-Nachrichten und löscht selten etwas. Sie hat sich auch bei einer Dating-App angemeldet und sich dabei fünf Jahre jünger gemacht.

Die Frau aus der Brasil-Szene sagt, je mehr sie von den mutmaßlichen Taten ihrer Bekannten erfahre, umso schwerer sei die Diskrepanz zu ertragen: zwischen der Claudia, die sie kannte, mit den Idealen und Talenten, mit dem Engagement. Und der Daniela Klette, von der sie liest. Was für ein Irrweg, sagt sie. Was für ein vergeudetes Leben.