Die Gruppe Contre Critique hat auf der diesjährigen antifaschistischen 8.-Mai-Demo ein Flugblatt verteilt, das wir hier dokumentieren.
Liebe Nazienkel und Naziurenkel,wir alle kennen das: Erinnern ist schwierig. Zu jedem Jahrestag fragt man sich, was man nun schon wieder machen soll. Längst ist alles gesagt, längst kann keiner mehr die immergleichen Phrasen hören, längst ist das Gedenken nichts als Folklore. Sollen wir es einfach lassen?, fragte man sich deshalb in manch linker WG. Aber das ging nun auch wieder nicht. Denn am 8. Mai muss man doch irgendwas tun! Denkt doch mal an die Partisanen und die Rote Armee! Und die Pyro war auch schon gekauft! Also organisierte man doch eine Antifa-Demo.
So ehrenwert Euer Anliegen auch ist, den Sieg der Alliierten zu feiern und den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken, so sehr gilt nach wie vor, was der Satiriker Wiglaf Droste schon vor vielen Jahren feststellte: „Wenn es ans Gedenken geht, ist es mit dem Denken Essig.“ Der Aufruf zur heutigen Demonstration beweist das mustergültig. Vielleicht habt Ihr ihn ja gar nicht gelesen und seid hier, weil der Jahrestag so wichtig, die Gelegenheit fürs Freundetreffen so günstig oder die Lust auf das Spektakel kaum auszuhalten ist. Vielleicht wisst Ihr aber auch schon, was die Organisatoren zum 8. Mai unbedingt noch loswerden wollten, und seid trotzdem gekommen. Wie dem auch sei – wir möchten Euch kurz daran erinnern, wofür hier gerade demonstriert wird.Was schert mich mein Nachbar?Die Organisatoren wollen laut ihrem Demoaufruf Lehren aus der Geschichte ziehen. Anders geht es in Deutschland bekanntlich gar nicht, und dass das alles heißen kann, haben andere vorgemacht. Joschka Fischer etwa, der Belgrad bombardieren ließ, um ein zweites Auschwitz zu verhindern, oder Heiko Maas, der wegen Auschwitz in die Politik gegangen ist und als Außenminister die iranischen Judenfeinde hofierte. So viel besser sind die Lehren, die Frankfurts radikale Linke aus der Geschichte ziehen will, aber auch wieder nicht. Denn im Aufruf heißt es, man müsse heute nicht nur die deutsche Erinnerungskultur kritisieren und den Rechten „auf der Straße und im Internet, auf der Arbeit und im Viertel“ entgegentreten, sondern sich auch „gegen Militarismus und Nationalismus“ engagieren und natürlich die polnische Regierung abwatschen.
Ja, nicht mal zum Jahrestag des Siegs der Alliierten über die Nationalsozialisten, die etwa 3 Millionen polnische Juden, aber auch mehr als eine Million nichtjüdische Polen ermordeten, kann man es sich verkneifen, gegen die östlichen Nachbarn vom Leder zu ziehen. Zur Erinnerung: Sehr lange trat man in der Bundesrepublik gegenüber Polen in altbekannter Herrenmenschenmanier auf. Noch Ende der 90er-Jahre lachte die ganze Nation vor dem Fernseher über den obligatorischen Polenwitz in der Harald Schmidt Show. Der blieb erst aus, als der polnische Botschafter in Deutschland, Andrzej Byrt, intervenierte – und der Stereotyp des Autodiebs an den Stammtisch wandern musste. Dort ist er immer noch verbreitet; das öffentliche Deutschland aber redet anders.Die „Inszenierung als geläuterte Nation“, die im Aufruf völlig richtig angeprangert wird, verlangt die klare Abgrenzung von solch plumpen Beleidigungen. Gleichzeitig ist gerade im linken und liberalen Spektrum das Polenbild weiterhin kein Gutes. Den östlichen Nachbarn wirft man zwar nicht mehr die Vertreibung der Ostpreußen und Schlesier vor, dafür aber, dass sie reaktionär, nationalistisch und europafeindlich seien. Die Organisatoren bezeichnen die Warschauer Regierung sogar als Teil der „globalen Rechten“ und stellen sie in eine Reihe mit – ausgerechnet – Putin und Erdoğan.Hieraus spricht ein völliges Desinteresse an der Geschichte Polens, das vielleicht nicht ganz zufällig ist. Von den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert bis zum 2. Weltkrieg wiederholte sich Polens Erfahrung, zwischen seinen großen Nachbarn Deutschland (respektive Preußen und Habsburg) und Russland (bzw. der UdSSR) zerrieben zu werden. Wenig überraschend hat die nationale Souveränität deshalb in Polen einen ganz anderen Stellenwert als hierzulande. Und wenig überraschend ist man sensibel dafür, welche Töne in Russland und Deutschland angeschlagen werden. Könnt Ihr Euch eigentlich vorstellen, was den Leuten in Warschau, Krakau und Łódź durch den Kopf ging, als in deutschen Leitartikeln immer wieder „mehr Härte gegen Polen“ gefordert wurde? Könnt Ihr heute vielleicht nachvollziehen, dass Polen – wie die baltischen Staaten – zur Abschreckung Russlands stets für eine stärkere NATO-Präsenz in Osteuropa warb? Ein wenig Empathie würde schon reichen, um zu verstehen: In dem Maße, in dem man sich in Polen völlig zu Recht wieder zwischen den alten Großmächten eingekesselt fühlt, besinnt man sich auf die eigene Souveränität – und das heißt auch: aufs Nationale. Von all dem will die Antifa nichts wissen und übt sich stattdessen in deutscher Überheblichkeit.
Dabei hätte gerade der russische Angriffskrieg Anlass zum Innehalten geboten. Wisst Ihr noch, wer immer wieder davor warnte, dass sich Deutschland durch Nord Stream 2 von russischem Gas abhängig macht? Klar, Trump und Biden, aber eben auch derpolnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Und wer machte sich damals lustig über seine – wie jetzt alle Welt weiß: sehr berechtigte – Befürchtung, Russland könne einen Krieg vom Zaun brechen? Genau, das politische und mediale Deutschland. Viel wichtiger als die Sichtweise des EU- und NATO-Partners Polen war nämlich das billige russische Gas. Manchmal fallen in Deutschland eben Dinge, die ganz weit auseinanderzuliegen scheinen, wie auf wundersame Weise zusammen: das knallharte Durchdrücken nationaler Interessen, der moralinsaure Überlegenheitsdünkel und das hämische Desinteresse an den Anliegen der Nachkommen derer, die der Mordlust der eigenen (Ur-)Großeltern entkommen sind.Vergangenheit, Erfahrung, KitschFalls Ihr Euch fragt, was wir gegen die Formulierung im Aufruf einzuwenden haben, man müsse sich wegen der „Verbrechen des Nazifaschismus … gegen Militarismus und Nationalismus“ engagieren: Wurden die Nazis denn vom gewaltlosen Widerstand der deutschen Zivilbevölkerung in die Knie gezwungen? Ihr wisst selbst, dass es nicht so war und die Organisatoren wissen es auch, denn sie wollen ja die „militärische Niederlage“ Deutschlands feiern. Wie aber kommt man dann auf die Idee, gerade gegen Militarismus zu demonstrieren?Solche kognitiven Dissonanzen sind nicht einfach Versehen oder Zufall. Sie sind der notwendige Ausdruck dessen, dass große Teile der radikalen Linken die deutsche Schuld behandeln wie das Kaffeeservice, das sie von ihren Vorfahren geerbt haben: schnellbegutachten, fein säuberlich einsortieren und zu passenden Anlässen hervorkramen. Seit einigen Jahren schon verstärkt sich – nicht nur in Frankfurt – die Tendenz, den Nationalsozialismus in den linken Wandschrank hineinzuquetschen. Man kann sie jedes Mal beobachten, wenn es wieder von irgendeinem Lauti tönt: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Nichts gegen diesen Satz von Horkheimer (außer dass er ihn später selbst relativierte). Auf linken Demos aber leitet er fast nie Ausführungen ein zur nationalsozialistischen Vergesellschaftung, sondern zur kapitalistischen. So wird er in sein Gegenteil verkehrt: „Lasst uns vom Kapitalismus reden, damit wir vom Nationalsozialismus schweigen können.“Die Eigenheiten der deutschen Tätergemeinschaft kommen kaum noch zur Sprache. Wo sie Unklarheiten und Widersprüche im eigenen Denken auftun könnten, werden sie unter den schweren Teppich liebgewonnener Gewissheiten gekehrt. Und das ausgerechnet bei Veranstaltungen wie der heutigen zum 8. Mai. Ihr weist heute die Frankfurter nachdrücklich darauf hin, dass Ihr alle Antifa seid und dass das vor allem heißt: gegen alles, was Rechts ist. Das entspricht ziemlich genau dem, was der tschechoslowakische Autor Milan Kundera einmal als „politischen Kitsch“ bezeichnet hat: eine vage, mit allerlei großen Bildern und Wörtern aufgeladene Vorstellung davon, was richtig und fortschrittlich ist, ersetzt Theorien, Prinzipien – und wir fügen hinzu: reflektierte Erfahrung. Die nationalsozialistische Vergangenheit wird genau diesem linksradikalen Kitsch eingepasst. Das bedeutet letztlich ihre Abwehr.Heraus kommt nämlich eine Wald-und-Wiesen- Auffassung des Nationalsozialismus wie sie auch in schäbigen deutschen Schulbüchern zu finden ist. Wir kommen ein letztes Mal zum Aufruf zurück und zu seiner Verurteilung des Nationalismus. Aus ihr spricht die Vorstellung, der Nationalsozialismus sei im Prinzip ein brutaler, übersteigerter Nationalismus gewesen. Dabei war er in Wahrheit dessen genaues Gegenteil: Eine Nation gründet sich auf die Identität von Staat, Territorium und Volk. Sie ist in der Regel darum besorgt, nach innen möglichst homogen zu sein und wehrfähig nach außen. All das kann mit viel Selbstüberhöhung und Gewalt einhergehen, wofür Nationalismus das richtige Wort ist. Wie schon Hannah Arendt bemerkte, war der Nationalsozialismus aber keine nationale, sondern eine völkische Bewegung. Seine Leitgedanken lauteten: Rasse, Blut und Lebensraum. Sie waren gerade auf die Überschreitung des Nationalstaats angelegt – auf die Vereinigung der Deutschen innerhalb und außerhalb der Grenzen des Reiches; auf Expansion; auf die Sprengung bestehender Nationalstaaten. In diesem Sinne war der Nationalsozialismus eine antinationale Bewegung.Das Unbehagen an DeutschlandPolitische Praxis, die aus diesem symptomatischen Denken folgt, sieht das Nachleben des Nationalsozialismus nur dort, wo es sich offensichtlich dem linken Kitsch fügt. Selbstverständlich ist der Rechtsterrorismus der letzten Jahre erschreckend und muss bekämpft werden. Das aber ist Konsens von Euch bis zur Bundesregierung. Worüber die Organisatoren dagegen kein Wort verlieren, sind postnazistische Konstellationen, die jenseits des Gegen-Rechts-Schemas liegen. Eine davon – den deutschen Blick auf Polen – haben wir schon erwähnt. Es gäbe noch viele Beispiele mehr, über die Andere Erhellendes geschrieben haben.Immerhin habt Ihr Euch aber entschieden, lieber zu dieser Demonstration zu kommen als am großen Festprogramm teilzunehmen, das heute den ganzen Tag lang stattfand. Wir vermuten, dies liegt nicht allein daran, dass ein antifaschistischer Umzug so viel Spaß verspricht. Sondern auch daran, dass Ihr ein Unbehagen an der großen Selbstbeweihräucherung der Zivilgesellschaft verspürt. Das ist zwar noch keine Kritik am Nachleben des Nationalsozialismus – aber ein Anfang.
Ganz liebe Grüße
Contre-Critique
Gegenrede:
Den Aufruf zum 8. Mai findet ihr hier.