Heute jährt sich zum sechten Mal der Mord an dem damals 19-jährigen Matiullah J. aus Fulda. Wir dokumentieren einen Artikel aus der Lotta zu dem Mord durch Polizisten und den Kampf um Anerkennung und Aufklärung. In Gedenken an alle Opfer rassistischer Polizeigewalt.
Was geschah mit Matiullah? Zum Umgang mit den polizeilichen Todesschüssen in Fulda
Am 13. April 2018 wird der 19-jährige Matiullah Jabarkhel in Fulda von einem Polizisten erschossen. Eine aus seinem Umfeld gegründete Initiative zweifelt die Darstellung des Hergangs durch die Polizei sowie die Begründung des Polizisten, in Notwehr gehandelt zu haben, an. Gegen Kritik am polizeilichen Vorgehen wird rigide vorgegangen und Protest in der lokalen Presse diskreditiert.
Laut der knappen Pressemeldung der Polizei vom 13. April 2018 wurden an diesem Morgen Einsatzkräfte gerufen, da „ein Randalierer […] einen Bäckereiladen und mehrere Personen angegriffen und teilweise schwer verletzt“ habe. Die eintreffenden Polizisten seien „sofort mit Steinen“ angegriffen worden. In den darauffolgenden Ermittlungen heißt es, Matiullah Jabarkhel habe außerdem einen Schlagstock entwendet und sei geflohen. Erst zwei Straßen weiter wurde er offenbar eingeholt, ein Polizist schoss insgesamt zwölfmal, darunter sollen sich Warnschüsse befunden haben. Vier der Schüsse trafen den 19-Jährigen, laut Autopsie sollen zwei tödlich gewesen sein. Der Polizist gibt später an, Todesangst gehabt zu haben, und stellt die Schüsse als Notwehr da.
Zweifel und Widersprüche
Die Initiative Matiullah bezweifelt den beschriebenen Hergang. Bis heute konnten Widersprüche nicht schlüssig erklärt werden. Warum es nicht gelungen ist, den 19-Jährigen mit insgesamt fünf Beamt*innen festzunehmen, bleibt weitestgehend unbeantwortet. Wieso hat ein einzelner Polizist versucht, den weglaufenden Matiullah zu stellen, anstatt auf Verstärkung zu warten? Auch hierfür gibt es keine ausreichende Begründung. Ein Handyvideo, das zumindest einen Teil der Auseinandersetzung vor der Bäckerei zeigt, wirft ebenfalls Fragen auf. Der Initiative zufolge stellt sich Matiullahs Verhalten auf dem Video wesentlich passiver dar als von der Polizei geschildert. Und es sei zu sehen, wie er flüchtet. Das Video führte 2019 zu erneuten Ermittlungen, die aber wiederum eingestellt wurden. Aus Sicht der Ermittelnden liege kein strafbares Verhalten seitens der Polizei vor und die Begründung der Notwehr sei glaubhaft. Auch nachdem im August 2020 der Bruder Matiullahs Beschwerde gegen die Einstellung einlegte, kam die Staatsanwaltschaft Fulda zum gleichen Ergebnis.
Die Zweifel bleiben. In einem Statement beschreibt die Initiative, dass Matiullah in den Monaten vor seinem Tod psychische Probleme hatte, die offenbar durch den Druck des Asylverfahrens und die Ablehnung des Asylantrags sowie seine Lebensrealität in der Sammelunterkunft in Fulda verstärkt wurden. In dieser Zeit zeigte er sich öfter verwirrt, hatte Auseinandersetzungen mit Mitbewohnern und versuchte, Suizid zu begehen. Infolgedessen gab es Polizeieinsätze, bei denen es aber keine nennenswerten Probleme gegeben habe. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich unterdessen zusehends. Obwohl dies Sozialarbeiter*innen bekannt gewesen sei, so kritisiert die Initiative, sei ihm nur unzureichend geholfen, sondern Druck aufgebaut worden, um ihn zu einer „freiwilligen Rückkehr“ nach Afghanistan zu bewegen. Dieser stimmte er kurz vor seinem Tod auch zu, obwohl noch eine Klage wegen seines abgelehnten Asylantrags anhängig war.
Protest und Repression
Am Wochenende nach den Todesschüssen hat die afghanische Community, aus deren Kreis die Initiative Matiullah hervorging, in Fulda zwei Kundgebungen durchgeführt, bei denen sie das Vorgehen der Polizei und strukturellen Rassismus kritisierte. Es folgten Repressionen, Beleidigungen und Bedrohungen. So erhielt der Anmelder der Demonstration, Abdulkerim Demir, der auch Vorsitzender des Ausländerbeirates in Fulda ist, in den folgenden Monaten mehrere Drohschreiben. Wegen seiner Kritik an der Polizei wandten sich der Landrat von Fulda, Bernd Woide, und der Fuldaer Oberbürgermeister Heiko Wingenfeld (beide CDU) mit der Aufforderung an das Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Demirs Zulassung als Leiter von Integrationskursen zu überprüfen.
Auch nach einer Demonstration zum ersten Todestag 2019 folgten insgesamt sechs Anzeigen wegen Beleidigung, Verleumdung und übler Nachrede mit mittlerweile zwei verhängten Geldstrafen. Bei der Demonstration kam es zu Anfeindungen durch Passant*innen.
Anzeigen und Hausdurchsuchung
„Auch während einer Schweigeminute am Todesort provozierte ein Anwohner die Trauernden lautstark“, berichtete Belltower.News im April 2019 in einem Text über die Todesschüsse und das Gedenken. Wenige Wochen nach der Veröffentlichung wurde den Autoren mitgeteilt, dass aufgrund des Textes wegen des Verdachts der Beleidigung, der üblen Nachrede und der Verleumdung ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden sei. Die Anzeige war vom Fuldaer Polizeipräsidenten Günther Voß gestellt worden, da die Autoren fälschlicherweise von „zwölf tödlichen Schüssen“ geschrieben hatten. Im Oktober 2019 folgte in Fulda eine Hausdurchsuchung beim Administrator der Facebook-Seite „Netzwerk Fulda aktiv gegen Rassismus“, der den Text auf der Seite geteilt hatte. Nachdem ihm damit gedroht worden sei, seinen Computer zu beschlagnahmen, habe er den Polizist*innen das Passwort für die Facebook-Gruppe gegeben, schildert der Betroffene. Einer der Polizisten habe sich unter seinem Namen eingeloggt und den Artikel eigenhändig von der Seite gelöscht. Kurz darauf sei das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt worden.
Zuspruch erfährt die Polizei hingegen von der regionalen Nachrichtenseite Osthessen|News. Bereits 2019 veröffentlichte deren Chefredakteur Christian P. Stadtfeld einen Kommentar zur Gedenkveranstaltung, in dem er den Beteiligten „fehlenden Integrationswillen“ vorwarf und die Aussagen auf der Demonstration als „skandalös und ein versuchter Angriff auf unseren deutschen Rechtsstaat“ bewertete. Anlässlich der Kundgebung zum vierten Todestag in diesem Jahr kommentierte Stadtfeld dann unter dem Titel „Die Polizei ist nicht der Feind, liebe Linke!“ Die AfD hatte schon zwei Wochen nach den Geschehnissen 2018 eine Kundgebung in Fulda unter dem Motto „Danke Polizei“ organisiert, an der auch Funktionäre der hessischen NPD teilnahmen.
Für Sichtbarkeit und Aufklärung
Schon der Umgang mit rassistischen Angriffen und Anschlägen in anderen Orten im östlichen Teil Hessens wie etwa zuletzt in Schlüchtern (vgl. LOTTA #84, S. 4 ff) zeigt, dass von Rassismus betroffene Menschen in der Region oft nur auf wenig Unterstützung zählen können. Die Initative Matiullah hingegen will weiterhin die Angehörigen in Afghanistan unterstützen und mit rechtlichen Mitteln für eine lückenlose Aufklärung kämpfen. Auch wollen sie die Erinnerung an Matiullah Jabarkhel wach halten und auf die Geschehnisse überregional aufmerksam machen. Im vergangene Jahr stellten sie seinen Nachlass der Ausstellung „Ich sehe was, was Du nicht siehst. Rassismus, Widerstand und Empowerment“ im Historischen Museum Frankfurt zur Verfügung.