Gefunden auf Indymedia
Derzeit wird wieder mehr über Schutz gesprochen. Dabei gibt es verschiedene patriarchale Fallstricke und Praxiserfahrungen. Wir dokumentieren einen Workshop und getroffene Verabredungen und freuen uns, weiter ins Gespräch zu kommen.
Im Rahmen des Antifa Ratschlags Berlin vom 15. bis 17. November 2024 haben wir einen Workshop mit dem Titel „Schutz und Patriarchat – Impulse und Standards für Berliner Antifas“ organisiert. Im Folgenden wollen wir vorstellen, was beim Workshop besprochen wurde, insbesondere die getroffenen Verabredungen dokumentieren und einen weiteren Diskussionsprozess anstoßen. Wir – das ist eine Antifa-Gruppe, in der Leute inner- und außerhalb der Gruppe und in unterschiedlichen Kontexten mit Schutzaufgaben unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Mit diesem Bericht wollen wir unsere Erfahrungen nicht generalisieren oder den perfekten Plan präsentierten, sondern in den Austausch mit anderen Schutzleuten kommen und daraus gemeinsam ableiten, was es künftig noch braucht.
Seit dem Sommer 2024 steigt die Zahl von linken Veranstaltungen, für die sich Schutz gewünscht wird, stetig an. Wegen dem gestiegenen Bedarf beginnen viele Menschen, sich neu mit dem Thema Schutz auseinanderzusetzen. Im Rahmen von Schutzpraxis wie auch Skillsharings werden immer wieder auch patriarchale Verhaltensweisen im Bezug auf Schutz Thema. Auch für Leute, insbesondere FLINTA*, die schon lange in Schutz-Crews tätig sind, ist und bleibt es ein wichtiges Thema. Unser Workshop sollte deswegen Raum dafür schaffen, sich mit patriarchalen Verhaltensweisen und Fallstricken bei Schutz auseinanderzusetzen. Gemeinsam sollte diskutiert werden: Was ist Schutz? Wer macht Schutz? Wie schützen wir? Anschließend wollten wir zusammen konkrete Absprachen treffen und so Standards für antipatriarchalen Schutz weiter etablieren. Das Interesse war groß. Am zweistündigen Workshop nahmen etwa 80 Personen teil. Das Workshop-Konzept ist nach dem Feedback verschiedener Teilnehmenden gut aufgegangen.
1. Workshopthemen und -fragen
Der Workshop begann mit einem kurzen Abriss der Problematik aus unserer Sicht: Schutz birgt aufgrund patriarchaler Zuschreibungen*1 und Rollen-Wahrnehmungen die Gefahr, patriarchale Strukturen zu verfestigen anstatt emanzipatorische Räume zu öffnen. Die bisherige Schutzpraxis zeigt, dass hierbei fast zwangsläufig patriarchal geprägte Situationen entstehen und Frustmomente oder Unsicherheiten erzeugen. Wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein und weiter daran zu arbeiten, dass es weniger dieser Situationen gibt und sie sich nicht wiederholen. Deswegen ist ein antipatriarchaler Blick eine Notwendigkeit in der Diskussion um Schutz und gemeinsame Standards. Als Schlüssel dafür sehen wir Organisierung: Wir müssen uns kennen, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen und Standards umzusetzen (bennenen, reflektieren, ändern). Diskussionen, wie die während unseres Workshops, sollen dazu beitragen.
Diese Problemdiagnose haben wir im Anschluss an die Einführung in Murmelrunden konkretisiert und anschließend zusammenzutragen. Hierbei haben sich zwei Themenschwerpunkte ergeben. Erstens: Wie wird Schutz wahrgenommen? Zweitens: Wer macht Schutz? Jeweils sprachen wir über Rollenerwartungen und wie diese vom gesellschaftlichen Blick von Außen vorbestimmt sind. Außerdem wurden Fragen eingebracht zum Verhältnis innerhalb von Schutzcrews, der dortigen Arbeitsteilung, emotionalen Belastungen und Betroffenheiten. Angesprochen wurde des Weiteren, dass der beste Schutz kein kurzfristiger defensiver Schutz ist, sondern langfristige antifaschistische Offensive insofern, als dass Nazis ihr Raum genommen wird und die Bedingungen, die ihnen ihre Aktivitäten ermöglichen, angegangen werden müssen. Dies wurde in dem Workshop nicht weiter vertieft, ist ja aber schließlich Grundsatz antifaschistischer Aktitität. Ebenfalls nicht vertieft wurden Fragen des Schutzes nach Innen (vor Diskriminierung oder Übergriffen), auch wenn die Verbindung immer wieder aufkam. Durchgezogen hat sich auch die Frage von Schutz als kollektiver Aufgabe, die wir als Bewegung vertiefen sollten.
Anschließend sollten die schon aufgeworfenen Themen in Diskussionsgruppen vertieft werden. Dafür teilten wir uns drei Gruppen auf.
a) Schutz und Kampfsport
Eine erste Gruppe beschäftigte sich mit der Frage, wer sich befähigt fühlt, welche Aufgaben wahrzunehmen. Insbesondere die Rolle von Kampfsport wurde differenziert diskutiert und auf 3 Aspekte zugespitzt: Erstens, dass weniger individuelle als kollektive Trainings sinnvoll sind. Zweitens, dass es Absprachen über Hilfsmittel und Aufgaben braucht. Drittens, die Frage der Gewaltkompetenz*2: Welche Erfahrungen bringen wir mit, welche Reaktionen zeigen wir in Stresssituationen, was macht es mit uns, Gewalt zu erfahren oder auszuüben. Wichtig ist die Unterscheidung, dass Schutz nicht Nazis boxen bedeutet, sondern vielschichtige Aufgaben beinhaltet. Gewisse Aktionsformen, dazu zählt auch Schutz, bergen stärkere Potenziale, patriarchale Prägungen ausleben zu können. An dieser Stelle wollen wir nochmal auf die „Zehn Thesen zu Verrat, Patriarchat und militanter Gewalt als politischem Mittel“ verweisen (https://antifainfoblatt.de/aib139/zehn-thesen-zu-verrat-patriarchat-und-militanter-gewalt-als-politischem-mittel). Stattdessen geht es vorallem um einen kollektiven Umgang mit Bedrohungen, also darum, als Gruppe zu agieren, statt den*die Superheld*in zu spielen. Es braucht also diverse Kompetenzen.
b) Wo und wann fängt Schutz an, wo hört er auf?
Die zweite Gruppe beschäftigte sich mit den Grenzen von Schutz. Unter diesem Stichwort wurden vor allem Fragen der Kollektivität diskutiert: Als antipatriarchale Bewegung brauchen wir ein kollektives Schutzverständnis, das nicht einzelne überhöht. Das Schutz-Team sollte deswegen nicht abgekapselt von den eigenen Leuten arbeiten oder diese als unmündig begreifen, sondern mit ihnen gemeinsam agieren. Ziel ist es, dass die Bewegung fortlaufend dazulernt, ihre eigene Sicherheit herzustellen. Außerdem wurde besprochen, wie man als Schutz auftritt. Dabei standen zwei Fragen im Fokus: Wie wirken wir auf bedrohliche Personen abschreckend, aber für die eigenen Leute ansprechbar? Wie sind wir als Schutz sichtbar und präsent, ohne überbordend zu sein? Abschreckende Wirkung sollte also keine Eigenschaft sein, sondern ein Werkzeug, das man nur in bestimmten Situationen einsetzt.
c) Schutz und Bewegung
Eine dritte Kleingruppe beschäftigte sich mit dem Verhältnis von Schutz und Bewegung. Hierbei ging es vor allem darum, wie und unter welchen Voraussetzungen Schutz-Crews vertrauensvoll mit der Bewegung zusammenarbeiten können. Insbesondere Organisierung und Einbindung in Bewegungskontexte ermöglicht reflektionsfähige Zusammenhänge.
2. Absprachen und Standards
Ziel unseres Workshops war es, nicht nur beim Diskutieren stehen zu bleiben, sondern gemeinsame Absprachen zu treffen, um antipatriarchale Standards im Schutz zu etablieren. Folgendes wurde verabredet:
- Vor Schutz-Einsätzen machen wir Vorbesprechungen, an denen alle Beteiligten teilnehmen und für die sich genug Zeit genommen wird. Dort treffen wir Absprachen über Rollen und deren Verteilung, sprechen über Erwartungen an uns selbst und die Veranstalter*innen, über unser eigenes Aktionslevel und welche Hilfsmittel mitgenommen werden. Wir teilen unsere Sorgen und Reaktionen auf Stress und thematisieren unser Auftreten nach Innen.
- Wir halten Absprachen ein. Das ist wichtig fürs Vertrauen untereinander.
- Wenn etwas schief läuft, besprechen wir das, um gemeinsam daraus zu lernen.
- Wir denken Schutz nicht isoliert, sondern Awareness und Erste Hilfe direkt mit.
- Wir etablieren Nachsorge: Wir wollen psychische Nachsorge bei Gewalterlebnissen organisieren und anerkennen, dass Gewalt etwas mit uns macht.
- Wir sprechen in unseren Zusammenhängen über „Gewaltkompetenz“ (s.o.).
- Wir wollen unser Wissen und Kompetenzen weitergeben – in gemeinsamen Trainings, in Diskussionen und insbesondere auch als Generationen-Austausch.
- Wir wollen unsere Kritikkultur stärken und eine Kultur bzw. Praxis der Selbstkritik etablieren. Dabei wollen wir darauf achten, dass dies nicht immer nur von FLINTA* eingefordert werden muss, sondern aus Eigeninitiative und organisiert geschieht.
- Wir wollen mehr gemeinsame Räume schaffen fürs Äußern von Unsicherheiten und gemeinsam Verantwortung dafür übernehmen.
- Schutz ist repressionsanfällig. Wir müssen den Grat zwischen reflexionsfähigen Zusammenhängen und Repressionsrisiko weiter balancieren.
- Wir brauchen ein kollektives Schutzverständnis: Schutz geht in den Austausch mit Teilnehmenden, bezieht deren Bedürfnisse ein. Wir schärfen als Schutz das Bewusstsein in der Bewegung für Sicherheitsfragen, ohne bevormundend zu sein oder für Panik zu sorgen.
- Schutz ist insbesondere dort erforderlich, wo es eh weniger Strukturen gibt. Schutz stärken heißt strukturschwächere Regionen unterstützen.
3. Wie weiter?!
Das Vorstehende gibt nur einen Teil der Praxis und ihrer Diskussion wieder. Wenn ihr abweichende Fragen diskutiert, weitere Lücken seht oder andere Erkennntnisse zum Stand der Diskussion habt, sind wir daran sehr interessiert! Wir freuen wir uns, wenn auch andere ihre Diskussionsstände immer wieder durch Veröffentlichungen transparent machen, um dieses Wissen in der Bewegung nutzen zu können. Für konkrete Zuschriften erreicht ihr uns unter: ratschlag161 [at] riseup.net
Wir denken jedenfalls, dass es sinnvoll ist, die aufgeworfenen Fragen als Bewegung weiter zu diskutieren. Dafür braucht es verschiedene Formate – in Kleingruppen, Zusammenhängen und immer mal wieder auch öffentlich. Wir werden die Diskussion in Berlin weiterführen und in einigen Monaten noch einmal etwas dazu veröffentlichen.
- *1: Wir sprechen bewusst von „patriarchale Zuschreibungen“ oder „patriarchaler Prägung“. Das Patriarchat betrifft uns alle durch Sozialisation, unabhängig vom Geschlecht. Neben dem Patriarchat gibt es weitere Diskriminierungsverhältnisse, die beim Schutz eine Rolle spielen, beispielsweise Rassismus oder Ableismus, wozu es auch weiteren Austausch benötigt. Zudem sind viele der Fragen, mit denen man sich im Rahmen von anti-patriarchalem Schutz auseinandersetzt, relativ allgemein und zielen auf Aspekte ab, die Schutz grundsätzlich verbessern: z.B. eine ausführliche Vor- und Nachbereitung oder Etablierung einer solidarischen Kritikkultur. Diese Basics sind jedoch Voraussetzung für das Einhalten von feministischen Standards, weil sie erst die Räume erschaffen, in denen man sich selbst und andere reflektieren kann.
- *2: Gewaltkompetenz könnte ein zentrales Stichwort bei Schutz sein. Wir fassen hierunter verschiedene Aspekte: 1) Die Fähigkeit, reflektiert mit Gewalt umzugehen – mit der Gewalt, die man ausgeübt hat und die man erlebt hat. 2) Eigene Gewalterfahrungen und was sie mit uns machen – vulnerabler? vorbereiteter? 3) Und die Fähigkeit, andere in Gewaltsituationen zu unterstützen. 4) Die Art und Weise, wie wir auf Gewalt blicken – als politisches Mittel, das eben Mittel und niemals Selbstzweck ist und die politischen Ziele nicht verkehren darf.